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In Frankreich veröffentlichte Pierre Leroux am 24. Dezember 1827 in der Zeitschrift "Le Globe" einen Artikel unter dem Titel "Philosophie de l'histoire de l'Union européenne"! (Philosophie der Geschichte der Europäischen Einheit) Eine große Zahl von Schriftstellern wie François Guizot (1787-1874) und Jules Michelet (1798-1874) in Frankreich oder Mazzini in Italien usf. sprachen Europa eine Seele zu, verstanden Europa als komplexen Organismus. Im Kontext der Revolution von 1848, die viel europäischer als jene von 1789 oder 1830 war, lief das Wort von den Vereinigten Staaten von Europa um.

Wortgewaltig resümierte Victor Hugo auf dem Pariser Pazifistenkongress von 1849 gewissermaßen alles, was hinsichtlich Europa in dem halben Jahrhundert zuvor in den unterschiedlichsten Ecken Europas angedacht worden war: "Das Ziel der großen Politik, der wahren Politik, wird künftig sein: alle Nationalitäten anzuerkennen, die historische Einheit der Völker wiederherzustellen und diese Einheit durch den Frieden mit der Zivilisation zu verbinden, die Gruppe der zivilisierten Völker unaufhörlich zu vergrößern, den noch barbarischen Völkern ein gutes Beispiel zu geben, Kriege durch Schiedsgerichte zu ersetzen kurz, darauf läuft alles hinaus: Das Recht muß das letzte Wort erhalten, das in der alten Welt von der Gewalt gesprochen wurde. (Große Bewegung im Saal.)
Meine Herren, abschließend sage ich etwas, das uns ermutigen kann: Das Menschengeschlecht ist nicht erst seit heute auf diesem von der Vorsehung bestimmten Wege. England hat in unserem alten Europa den ersten Schritt getan und durch sein säkulares Beispiel den anderen Völkern gesagt: Ihr seid souverän! Frankreich hat den zweiten Schritt getan und den Völkern gesagt: Ihr seid souverän! Machen wir nun alle zusammen - Frankreich, England, Belgien, Deutschland, Italien, Europa, Amerika - den dritten Schritt und sagen wir den Völkern: Ihr seid Brüder! (Ungeheurer Beifall)." (Auszug in Schulze/Paul, S.356ff., nach Schulze, Hagen/Paul, Ina Ulrike (Hg.): Europäische Geschichte - Quellen und Materialien, München 1994.)

Das Scheitern der Revolutionen von 1848 lag z.T. daran, dass die Vorstellung von Nationen als autarken Gemeinschaften vorangeschritten war, das Prinzip einer europäischen Staatenfamilie, wie es vorher oft geheißen hatte, oder Vereinigter Staaten von Europa nicht durchzusetzen war. Z.T. förderte das Scheitern das Selbstverständnis von Nationen als autarken Gemeinschaften. Mazzini gründete 1851 in London das "Europäische Komitee", um seinen Traum einer Heiligen Allianz der Völker umzusetzen, im Gegenzug gründete Hugues Félicité Lamennais (1782-1854) in Paris den "Comité démocratique franco-hispano-italien", auch "Comité latin" genannt. Mazzini orientierte sich in den 1850er Jahren immer stärker hin zum Donauraum und zum Balkan. Bezüglich der Griechen stellte er die Frage, was Europa ohne deren Tapferkeit in den Schlachten gegen die Perser geworden wäre; hier scheint der in der Antike von den Griechen schon einmal selbst behauptete kulturelle Gegensatz zwischen Griechen und Persern (Herodot) als europäischer lieu de mémoire auf.

Victor Hugo - politischer Gegner Napoleons III. (1808-1873) - blieb der Idee der Vereinigten Staaten von Europa treu, propagierte sie erneut anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1867 in einem "Führer durch Paris". Zu diesem Zeitpunkt befand er sich im Exil. Und dies sollte vielleicht nicht übersehen werden: Diejenigen, die im 19. Jh. die Europaidee vorantrieben, waren bzw. wurden zum größeren Teil verfolgte Außenseiter, führten ein bewegtes Leben, fernab vom Biedermeier oder gediegenem Second Empire. Sie machten jedoch "Europa" zu einer demokratischen Idee, die zugleich dem Brüderlichkeitsgedanken der Französischen Revolution verpflichtet wurde. Alle zitierten Persönlichkeiten versuchten, National- und Europabewusstsein miteinander zu vereinbaren. Damals erschien dies nicht als Widerspruch in sich, weil bei diesen Persönlichkeiten der Nationsbegriff vom Prinzip der Volkssouveränität und der Demokratie hergeleitet wurde. Es war nicht allzu schwierig, sich neben den demokratischen Ebenen der Kommune, der Region und der Nation auch die Ebene Europas zu denken, streng nach dem Prinzip, dass jede Ebene die ihr eigentümlichen Belange zu regeln hat. Der Blick auf Amerika, die Entwicklung von Wirtschaft, Handel und Kapitaltransfer schärfte das Verständnis für die gegenseitige Abhängigkeit zusätzlich zur politischen Abhängigkeit, die seit den Tagen der jüngeren Gleichgewichtsdoktrin des 17./18. Jh. für jedermann sichtbar war. Französischerseits formulierte Ernest Renan (1823-1892) das Problem so, dass das Prinzip der Föderation das Prinzip der Nation korrigiere. 1882, nach einer schriftlich geführten Debatte mit dem deutschen Historiker Theodor Mommsen (1817-1903), vermutete er, dass die europäische Konföderation die Nationen ablösen werde. Ende des 19. Jahrhunderts hatte die politische Europaphilosophie bereits einen paradigmatischen Umfang erreicht, der noch heute Gültigkeit beanspruchen kann.

Text: Wolfgang Schmale, Geschichte Europas (UTB), Wien 2001, S. 100-102 (mit freundlicher Genehmigung des Böhlau-Verlages Wien)

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