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"Ein einziges Volk"
Trotz der intensiven Suche nach den gallischen Ursprüngen Frankreichs in Frankreich auf der einen und der Ausschlachtung der Germania des Tacitus im Reich auf der anderen Seite, war es im 16. Jahrhundert noch nicht ausgemacht, dass es sich um zwei Kulturen gewissermaßen diesseits und jenseits des Rheins handele. Jean Le Maire de Belges’ „Les illustrations de Gaule et singularité de Troye“, die 1509 in Lyon veröffentlicht wurden, zählt zu den Grundlagen der aufkommenden französischen „Nationalhistoriographie“, aber der Autor grenzte keineswegs Frankreich über den historischen Umweg nach Gallien sonderlich von der benachbarten Germania ab, sondern machte sich über das gemeinsame Schicksal beider Gedanken. Die Tatsache, dass er zur Klientel des Hauses Österreich zählte, wird dabei möglicherweise eine Rolle gespielt haben. Es scheint so, als habe er mit seiner Position durchaus Einfluss auf ein späteres Geschichtswerk ausgeübt, das den politischen Absichten der französischen Könige ganz zu pass kam. Jean Le Maire de Belges war nämlich vor 1498 Erzieher im Haus von Gabriel de Saint-Julien, Seigneur von Balleure (Burgund), gewesen. Das Andenken an den berühmt gewordenen Gelehrten wurde im Haus Balleure im ganzen 16. Jahrhundert bewahrt, ein aufgefundenes Manuskript über die Geschichte Burgunds wurde dem ehemaligen Erzieher zugeordnet. Pierre de Saint-Julien, ein Enkel jenes Gabriel, veröffentlichte dann 1580/81 ein zweibändiges Werk, betitelt als „De l’origine des Bourgongnons“. Unter anderem erzählte der Autor, dass die Burgunden vor den militärisch überlegenen Senonen über den Rhein nach Germanien geflohen seien. Die „allemans“ (was sowohl für „Deutsche“ wie für „Alamannen“ steht) hätten ihnen Niederlassungsrecht gewährt, beide Völker hätten sich so gut verstanden, dass „les deux nations ne devindrent plus qu’une. Et pour ce que le nom des Allemans estoit plus usité par-delà que le nom des Bourgongnons, tous furent communément appelez Allemans.“ Außerdem waren zu dieser Zeit nach Ansicht des Autors allgemein Germanen und Gallier im Kampf gegen Rom brüderlich vereint gewesen. Zwar blieb es im Verlauf der Geschichte nicht ganz bei dieser Brüderlichkeit, aber der Topos an sich gefiel und war im späteren 16. Jahrhundert weit verbreitet. Dass der Topos der Brüderlichkeit der beiden Völker in einer Geschichte der Burgunden auftauchte, war kein Zufall: Nach dem Tod Karls des Kühnen waren die beiden Kernprovinzen Burgunds, das Herzogtum und die Freigrafschaft, an verschiedene Herrscher gelangt. Der französische König Ludwig XI. beanspruchte das Herzogtum, es dauerte aber rund ein halbes Jahrhundert, bis der französische Herrschaftsanspruch definitiv durchgesetzt worden war. Die Freigrafschaft wurde 1493 kaiserlich, bis sie von Ludwig XIV. nach dessen Selbstverständnis nach Frankreich ‘zurückerobert’ wurde. Beide Provinzen bezeichneten sich ungeachtet der politischen Trennung im späten 15. Jahrhundert weiterhin als Burgund.
Die politische Relevanz dieser Geschichtsposition zeigte sich anlässlich der „entrée solennelle“ der Königin (Elisabeth von Österreich) in Paris 1571. Im Mai 1571 wurden in Paris die Triumphbögen für den Einzug der Gemahlin Karls IX. von Frankreich, Elisabeth von Österreich (1554-1592), errichtet. (Abb. 5: Entrée der Königin Elisabeth von Österreich, Paris 1571, Pont Nostre Dame, in: Simon Bouquet, Bref et sommaire recueil, Paris: Denis du Pré, 1572, Q12v) Die Hochzeit selber lag schon fast ein Jahr zurück. Am Pont Notre Dame wurde ein „Portail“ errichtet, auf dem das französische Wappen mit den Lilien, überhöht durch eine Bügelkrone, angebracht war. Darüber wurde eine Asia (!) auf dem Stier gezeigt. Die zeitgenössische Erklärung dieser nur auf den ersten Blick eigenwilligen Darstellung lautete: „Et pour ce que par les escritz de plusieurs Saintz et anciens grands personnages a esté predict que des François et Allemans doit sortir un grand monarque lequel subjuguera outre l’Europe non seullement l’Asie, mais tout le reste du monde que nous esperons devoir estre de ce mariage, fut mis au premier portail du pont nostre Dame un Thoreau nageant en mer portant une Nymphe sur sa croppe, dicte Asie. Pour signifier que tout ainsi que l’ancien Juppiter en pareille forme ravit Europe (que iceux François, et Allemans avec leurs confederez occupent) aussi le Jupiter nouveau, ou Daulphin de France qui doit sortir de ce mariage ravira l’Asie, et le reste du monde pour joindre à son Empire, et soy faire Monarque de l’univers.“. Diese Botschaft war in lateinischen Versen am Triumphbogen selbst angebracht. Auf der einen Seite stand: „Jupiter Europam rapuit vetus: at novus ecce//Jupiter huc Asiam ducta rapit ELISABETA.“ Und auf der anderen: „Non Asiæ, non Europæ, iam nomina posthac//Sed iam totus erit Germania Gallia mundus.“
Der universalmonarchische Anspruch kam darin sehr gut zum Ausdruck (erste Botschaft). Die Abbildung zeigt außerdem die Flussgötter Rhône und Donau. Beide Flüsse werden in der französischen Beschreibung erwähnt. Sie symbolisieren die Verbindung von Gallia und Germania; die ins Schwarze Meer mündende Donau verbinde Okzidens und Oriens. Die neue Allianz ermögliche freien Handel in der Christenheit. Der Text der Beschreibung von Simon Bouquet liest sich fast wie ein europapolitisches Konzept (zweite Botschaft). Die Darstellung von Franken und Germanen als an sich ein Volk war zu dieser Zeit in Frankreich aus politischen Gründen bei Gelehrten und Geschichtsschreibern häufiger der Fall. Das Motiv der Bügelkrone verweist darauf, dass die Kaiserwürde auf den französischen König überzugehen habe (dritte Botschaft).
Der Europamythos ist hier subtil verarbeitet. Die Königstochter namens Europa ist ja keine „Europäerin“, sondern eine Phönizierin, eine „Asiatin“, die von Zeus/Jupiter geraubt wurde. In jenem Traum, den ihr Aphrodite schickte, wird ihr der Erdteil Europa als Ehrengabe nach dem Willen des Zeus versprochen. Übersetzt in die politischen Ziele dieser Hochzeit bedeutet das: Durch die Hochzeit sollten die Grundlagen für eine Herrschaft über Europa und die Welt gelegt werden. Nicht, dass Karl IX. dies alles selbst zu erreichen glaubte, die Hauptaufgabe wird auf den Thronfolger abgewälzt, dessen Zeugung und Geburt die zunächst zu erwartende Folge der Vermählung sein musste.
Es wurde ausdrücklich auf die Brüderschaft zwischen Germanen und Galliern Bezug genommen, das französische Wort „Germains“ für Germanen wurde auch wie „Zwillingsbruder“ der Gallier übersetzt, es wurde „conformitez de mœurs des deux nations“ festgestellt. Diese Geschichtsauffassung scheint bei den Überlegungen, Karl IX. von Frankreich zum Kaiser wählen zu lassen, eine Rolle gespielt zu haben. Um es kurz zu fassen: hier wurde aus propagandistischen Gründen an einem gemeinsamen französisch-germanischen historischen Gedächtnis gearbeitet. Unter „germanisch“ ist das Germanien, die Magna Germania, der Geschichtsschreiber und Kosmographen des 16. Jahrhunderts zu verstehen.
Spuren dieser französischen Arbeit an einem französisch-germanischen Gedächtnis finden sich noch 100 Jahre später bei den Propagandisten im Dienst Ludwigs XIV., bei Antoine Aubery beispielsweise, der aber recht schnell die Katze aus dem Sack lässt. Er arbeitet nicht mehr an einem gemeinsamen historischen französisch-germanischen Gedächtnis, sondern argumentiert juristisch, bzw. als Propagandist pseudo-juristisch. Er schreibt: „Der gröste Theil von Teutschland ist der Könige in Franckreich eigenthumb und altes Erbtheil gewesen.“ Und weiter: „Dieses Theil von Europa/heutzu Tage unter dem Namen Teutschland so berühmt und ansehnlich/ist allzeit sehr Volckreich gewesen/und von den Francken oder Frantzosen/von den Alemanniern und andern Völckern/die alle unter einem Namen begriffen/sich Teutsche nenneten/bewohnet worden.“ Hier und im folgenden werden Teutschland/Frankreich in Anknüpfung an die erwähnte Historiographie des 16. Jahrhunderts praktisch in eins gesetzt. Er fährt fort (S. 54): „Die alten Nachrichtungen von den Galliern beschliessen ihre Grentzen nicht durch den Rhein und Ocean auf einer/und mit den Alpen und Pyreneneen auff der andern Seiten/wie man nachgehends gethan hat; sondern sie breiten dieselben etwas länger und weiter auß/also daß sie den größten Theil von Europa darunter begriffen/wo man anders der Meinung einiger Scribenten glauben will; welche/wann sie die Lateinische Abtheilung in drey Theil in Galliam Togatam, Comatam und Braccatam erklären/allzeit behaupten/daß Gallia Togata die Lombardey/Comata/Burgund und Franckreich und Braccata Teutschland gewesen sey.“ Und mehr noch (S. 55): „Im übrigen so können hierauß zwey/nicht allein dem Könige vortheilige sondern auch nöthige und unwiedersprechliche Folgerungen gezogen werden. Erstlich/gleich wie alle Underthanen eines Printzen vor ein Volck gerechnet werden sollen/also ist auch alles/was die Franzosen jemahls erobert und besessen haben/unter dem Namen Franckreich begriffen. Zum andern so scheinet der einzige Tittel/König in Franckreich dem Unberechtigten Besitze deß Teutschlandes von den jetzigen Kaysern zu wiedersprechen/und die vornehmste Cron der Christenheit in dem berechtigten Besitze ihrer vereusserten Güter und Rechte zu erhalten. Und dieses nun so viel mehr/weil man nicht läugnen kan/daß Sachsen/Tühringen/Bayern und fast alle andern Provintzen/worauß dz heutige Kayserthum zusammen gesetzet ist/ein wahres Erbgut und altes Erwerb der Könige in Franckreich gewesen.“ Die Überlegungen gipfeln in den beiden folgenden Thesen: „Carl der Grosse hat Teutschland als ein König von Franckreich/nicht als ein Kayser besessen“ (S. 58 ff.: 2. Kap.) und: „Die Frantzösische Monarchie ist an die Stelle der Römischen gekommen.“ (3. Buch, 2. Kap.).
Der argumentative Umschwung, den Aubery illustriert, erklärt sich auch daraus, dass die Bourbonen mit ihrer Heiratspolitik weniger erfolgreich waren als die Habsburger, obwohl sie sich ja bevorzugt mit Töchtern aus dem Hause Österreich verheirateten. Das Festhalten an der Herkunftsbezeichnung „d’Autriche“ auch in Bezug auf die spanischen Habsburgerinnen zeigt, dass das große Vereinigungsprojekt, das 1571 propagandistisch vorgestellt worden war, nicht aufgegeben wurde (Anne d’Autriche, Tochter Philipps III. von Spanien, Ehefrau Ludwigs XIII., Mutter Ludwigs XIV.; Marie Thérèse, Tochter Philipps IV. von Spanien und der Isabella von Bourbon, Ehefrau Ludwigs XIV.). Aber der Schwerpunkt des Interesses hatte sich auf Spanien verlagert.
Text: Schmale, Wolfgang: Frankreich, Österreich und das Reich: Propagandageschichte einer virtuellen europäischen Vereinigung und Enteinung. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript Oktober 2002
- Literatur zur Geschichtskonstruktion von Jean Le Maire de Belges: Richard, Jean: Au temps de la celtomanie: Comment un historien bourguignon du XVIe siècle voyait les migrations des Burgondes, in: Heinz Duchhardt/Eberhard Schmitt (Hg.), Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit, S. 163-186, München 1987
- Quelle der Beschreibung des Festumzugs: Bouquet, Simon: Bref et sommaire recueil, Paris: Denis du Pré, 1572, abgedruckt in: Victor E. Graham und W. McAllister Johnson: The Paris Entries of Charles IX and Elisabeth of Austria 1571, Toronto 1974, S. 204-246
- Quelle: Aubery, Antoine: Von den rechtmässigen Ansprüchen des Königes in Franckreich auff das Kayserthum durch Herrn Aubry, Parlaments Advocaten und Königl. Rath. Auß dem Frantzösischen übersetzt, o.O. 1679 (französisch 1667)