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'Zentralismus als staatsorganisatorisches Leitprinzip'
 
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Zentralismus als staatsorganisatorisches Leitprinzip

Die Verwaltungsstruktur ist im Grunde nur Ausdruck und Instrumentarium des Zentralismus. Bei diesem handelt es sich auch nicht um eine Staats- oder Regierungsform. Zentralismus ist vielmehr ein staatsorganisatorisches Leitprinzip, das in Frankreich in rund einem Jahrtausend gewachsen ist (vgl. Rasch 1983). Damit wird permanent das Ziel angestrebt, von einer einzigen Entscheidungszentrale, von einem festen Punkt im Raum aus das als unteilbar definierte Territorium [1]  sowie alle gesellschaftlichen Bereiche maximal zu durchdringen, zu gestalten und zu steuern. Es dient der Formung einer geschlossenen Nation, die wiederum den dauerhaften Zusammenhalt von Bevölkerung und Fläche garantiert. Den Angelpunkt bildet das Ziel der Einheit, um Sicherheit nach innen und außen zu gewähren sowie interne Ungleichheiten zu verhindern. 

Als das Deutsche Reich 1871 gerade erst als Staat aus einem lebendigen Nationalbewusstsein entstand, war die französische Nation bereits in einem Staatswesen vereint, das man aus verschiedenen politischen Territorien und Kulturräumen gebildet hatte. Der Zentralstaat stellte hierzu das wichtigste Werkzeug, ganz gleich mit Hilfe welcher Staatsform: absolutistische Monarchie, autoritäres Empire oder demokratische Republik. 

Der Staat organisiert und verwirklicht das Leitprinzip mittels Gesetzen, Administration, Wirtschaftspolitik, Verkehrsnetzen, Bildungswesen etc. Dabei ist maximale zentralistische Durchdringung kein Zustand, sondern stetige, aber nie völlig erreichbare Zielsetzung, centralisme ist deshalb gleichbedeutend mit permanenter centralisation. Es gilt, sie gegen alle Widerstände zu erkämpfen: gegen den Individualismus der Menschen, gegen die regionalen und kulturellen Partikularismen, gegen die zu überwindende Weite des Raumes und selbst gegen die unterschiedliche Größe der Territorien. Vielleicht hat gerade das Unerreichbare im Anspruch des Leitprinzips jenen Prozess bei einem großen Teil der Nation ständig lebendig erhalten, auch wenn heute auf höchstem staatlichem Niveau der feste politische Wille besteht, ihn in Frage zu stellen. (s. Kap. 10 [2]

Die ältesten Ursprünge des Zentralismus liegen in den Macht- und Organisa-tionsstrukturen des Römischen Reiches, die von der römisch-katholischen Kirche übernommen wurden. Besondere Triebkräfte erwuchsen aus Sendungsbewusstsein und sakraler Stellung der Könige, aus Selbstbehauptungs- und Expansionswillen der bedrohten Krone auf ihrer winzigen Domäne in der Ile-de-France [3]  (vgl. Elias 1976, II). "Die Könige haben Frankreich geschaffen...", so wiederholen es immer wieder lapidar diejenigen, ob Monarchisten oder Republikaner, die glauben, dass die französische Nation und ihr geradezu perfekt geformtes Territorium, das "hexagone", ohne die politische Kontinuität der Monarchie überhaupt nicht hätten entstehen können. Aber schon sehr früh hat diese Doktrin zu folgender Argumentation geführt: Da Frankreich kein natürlich gewachsener, sondern ein künstlich geformter Staat sei, erscheine dessen Einheit ständig zerbrechlich (Machin1982). Gerade die daraus entstandene Furcht vor äußeren und inneren Gegnern, vor räumlichen Partikularismen und vor zentrifugalen Kräften wurde zur - vielleicht entscheidenden - Stütze im Kampf für die Durchsetzung eines mächtigen Zentralstaates. Und selbst nachdem dieser dann tatsächlich mächtig geworden war, blieb diese Behauptung lebendig, bis heute: "Die Anhänger der Zentralisierung haben immer vorgegeben zu glauben, dass ihre eigenen Gegner das Auseinanderfallen des Landes wünschten" (Peyrefitte 1976, S. 305). 

Abbildung 3:

Die französische Krondomäne im 12. Jahrhundert

 

 

Internet-Quelle [4]

Ausschlaggebend war, dass das Staatsgebilde von der Krondomäne aus aufgebaut werden musste. Den einverleibten Territorien durfte keine Eigenständigkeit gelassen werden, die sich - wie ja immer wieder geschehen - gegen die ungeliebte Zentrale richten könnte. Eine räum-liche Auf-teilung der Souveränität auf mehrere Standorte hätte in der Tat zur Schwächung geführt. Die daraus resultierende Konzentration aller Entscheidungsgewalt auf eine Regierung, in einer dauerhaften Hauptstadt erfordert dort eine optimal organisierte Verwaltung für ein weitestgehend zu vereinheitlichendes Territorium, denn "totale Macht und Unterschiede sind unvereinbar" (Raffestin 1980, S. 107). Je größer Territorium und Macht, desto dringlicher wird aber auch die rationalisierte Vereinheitlichung, was wiederum die zentrale Bürokratie immer umfangreicher und damit auch mächtiger werden lässt - sie sollte im ersten modernen Zentralstaat unter Napoleon weltweit zum Vorbild werden.

Machtausübung aus der Zentrale erfordert einen flächendeckenden, reibungslosen Fluss von Informationen und Anord-nungen bis in die entlegensten Räume. Stetig hat man deshalb die Reise- bzw. Kommunikationszeit zwischen Paris und Provinz verkürzt, bis zum bahnbrechenden Hochgeschwindig-keitszug "TGV [5] " (train à grande vitesse). Solange aber mangelhafte Kommunikation die Machtausübung der Zentrale behindert und verzögert, antwortet diese mit verschärften Zentralisierungsmaßnahmen. Denn am wirksamsten lassen sich Politik und Verwaltung in einem Raum mit möglichst wenig Widerständen realisieren. Erwachsen können solche aus regionalen Machtpolen, wie Städte oder Trutzburgen, aber auch aus ungleichmäßigen räumlichen Strukturen. Beispielhafte Schritte gegen regionale Eigenmächtigkeit sind der lange Kampf gegen den Feudaladel, die Entmach-tung der Städte, der Dauerkonflikt zwischen Staatsregierung und Stadt Paris, die Abwehr regionalistisch föderalistischer Autonomiebestrebungen, ja selbst die Verstaatlichung großer Unternehmen. Der Beweis ist die Vermengung der Begriffe Verstaatlichung (étatisation) und Nationalisierung (nationalisation): Alles, was von der öffentlichen Hand getragen wird, ist national. Was dem Nationalstaat gegenüber steht, ist privat.

Andererseits benötigt der Staat regionale Zentren, also Städte, um die räumlichen Strukturen aufrechtzuerhalten, was wiederum optimale Kontrolle der Kommunikationsadern erforderlich macht. Je moderner aber die Verkehrsträger sind, desto größere Räume überspringen sie, um den zeitlichen Abstand zu Paris auf ein Minimum zu verkürzen. Eine solche einseitige Förderung der Direktkommunikation erschwert die Querkontakte zwischen untergeordneten Stellen, zwischen Regionen und Städten innerhalb der Provinz, so dass sie sich oft am einfachsten auf dem Umweg über die Hauptstadt herstellen lassen. Daraus resultiert de facto eine Aufteilung des Landes in radial von der Hauptstadt ausstrahlende Sektoren; in ihnen bündeln sich die Hauptachsen aus je einer Nationalstraße 1.Ordnung, Autobahn, Schnellzug- bzw. TGV-Strecke. Wie an Nabelschnüren hängen Siedlungen, Verwaltung, Wirtschaft und Infrastruktur an diesen Achsen und ihren Verzweigungen, also letztlich an der Hauptstadt. Bezeichnenderweise hat der Ausbau dieser Radialen stets Priorität genossen. Die Anwendung der Theorie des "hub and spokes [6] "-Systems schon vor dessen Existenz.

Abbildung 4:

Das europäische Fernstraßennetz 2004

Die Übersicht macht deutlich, wie unterschiedlich die Fernstraßennetze in den Ländern Europas ausgerichtet sind. Frank-reich und Spanien haben ein sehr zentralistisch orientiertes Netz, im Gegensatz zum übrigen Europa mit deutlich dezentralen Strukturen. 

 

 


Internetquelle 

Abbildung 5:

Das napoleonische Hauptstraßennetz 1811

 

 

 

 

 

 

Quelle: verändert nach W. Brücher, 1992, in A. Pletsch, 2003, S. 232

Nach demselben Prinzip wird der Raum über die Energieversorgung kontrolliert. Je größer das Territorium, desto mehr Energie muss zentral einsetz- und verteilbar sein; umgekehrt darf die Peripherie nicht autonom über Energie bestimmen. Überdies verbindet sich zentralstaatliche Intervention in der Energiewirtschaft geradezu ideal mit den Bedingungen der leitungsgebundenen Energieträger Strom und Gas in Form von Monopolen (die heute im Rahmen der EU-Deregulierung theoretisch verschwunden sind). So lässt sich seit 1946 über die Staatsunternehmen Electricité de France [7] (EdF) und Gaz de France [8] (GdF) etwa die Hälfte des gesamten französischen Energiekonsums per Knopfdruck aus den Pariser Zentralen steuern.

Die Durchsetzung solcher zentralistischeinheitlichen Strukturen wurden begleitet von einer parallelen flächendeckenden Schwächung des Raumes: Man zerstörte die Trutzburgen der Adligen und holte diese in den goldenen Käfig von Versailles, verewigte die zersplitterte Struktur über mehr als 36.000 Gemeinden und störte damit die Dynamik der Städte, kumulierte das regionale Kapital in Form von Steuern und Bankeinlagen in der Hauptstadt und lockte dorthin die intellektuelle Elite. So nahm Paris der Provinz ihre Substanz, indem es die lebendigen Kräfte von dort absaugte.

Verwirklichen ließ sich das Leitprinzip nur in einem rational uniformierten Raum, der einem ebenso einheitlichen, zentral gesteuerten Verwaltungssystem unterworfen ist: Die Entscheidungen der Regierung wurden überall gleichlautend und gleichzeitig bekanntgemacht und ausgeführt. Ideologische Verstärkung lieferte das jakobinische Konzept der égalité (das heißt vom identischen Charakter der Bürger, ihrer Ähnlichkeit, dem Fehlen von Unterschieden, ihrer Uniformierung und ihrer Nivellierung, eben der Egalitarismus der Jakobiner). "Eine administrative Maßnahme erscheint als gerechter [hervorgehoben von den Verfassern], wenn sie im gesamten Staatsgebiet identisch durchgeführt wird" (Vivre ensemble 1976, S. 22). Die Uniformierung drang in alle Existenzbereiche ein, mit den unterschiedlichsten Methoden: Rechtsprechung, Maße, Gewichte, Energie- und Transporttarife, Einheitssprache, ja Einheitskultur. Dem diente das Schul- und Bildungswesen nicht minder mit der Uniformisierung des Geographie- und Geschichtsunterrichts (Sérant 1965, S. 14).