French
German
 
Seite zur Sammlung hinzufügen
'Das gespaltene Verhältnis zur Berliner Architektur'
 
1 Seite(n) in der Sammlung
 
 
 
 
 

Das gespaltene Verhältnis zur Berliner Architektur

Wenn man die konkreten Veränderungen betrachten will, sollte man sich zunächst noch einmal den beiden wesentlichen Zyklen zuwenden, die auf ihre Weise bis heute die Struktur und das Bild des Zentrums der beiden Städte formen, nämlich die unter der Leitung von Haussmann [1] in den Jahren 1855 bis 1870 in Paris durchgeführten Arbeiten und Hobrechts [2] ab 1862 umgesetzter Plan für Berlin. Beide Unternehmungen beinhalten eine bedeutsame Ausdehnung des Stadtgebiets während Paris 1860 bis zur Thiersschen Mauer ausgedehnt wird, werden in Berlin Moabit, Wedding und Teilbereiche einiger anderer Gemeinden integriert. Die Haussmannsche Unternehmung [3] zielt in erster Linie darauf ab, das Zentrum zu sanieren und zu verschönern sowie durch einige große Diagonalen die Querverbindungen zu verbessern. Dabei geht sie nach einem Prinzip in sich relativ geschlossener sozialer Zonen vor. Im Gegensatz dazu setzt Hobrechts Plan am Stadtrand an. Er baut die Ausdehnung Berlins auf einem vieleckigen Gürtel neuer Gebäudegruppen auf, in denen unterschiedlichste soziale Gruppen zusammenkommen.

Abbildung 3:

Baron Eugène Haussmann und James Hobrecht
Zwei der bedeutendsten Städtebauer des 19. Jahrhunderts in Paris und Berlin.

 

Internet-Quelle [4]  (Abb.1)
Internet-Quelle [5]  (Abb.2)

 

Diese beiden Vorgaben bestimmen zu Beginn des XX. Jahrhunderts, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Festlegung, noch immer die neuen Bauvorhaben: So ist die Bebauung im Westen des XVI. Arrondissements in Paris zur selben Zeit entstanden wie die in Schöneberg. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung der jeweils anderen Stadt völlig gegensätzlich. Der Monotonie der Haussmannschen Straßenzüge und der Enge innerhalb der Thiersschen Mauer in Paris halten die Deutschen die Vielseitigkeit der Gebäude und die angenehme Weitläufigkeit in Berlin entgegen. Auch das Stadtbild des erweiterten Berlin findet Zustimmung. Der Journalist Jules Huret  [6] erfreut sich am farbenfrohen Spektakel der "stolzen neuen Straßenzüge, die im Entstehen begriffen sind." Nach einem zum Allgemeinplatz gewordenen Vergleich unterstreicht er 1909 die Ähnlichkeit Berlins, dem "Chicago-an-der-Spree" (6), mit der Hauptstadt des mittleren Westens. Martin Halbwachs bestätigt 25 Jahre später die Ansicht, Berlin sei wie eine amerikanische Stadt aufzufassen. Zurückblickend hebt er 1934 hervor: "Diejenigen, die noch nie in den Vereinigten Staaten waren, können sich in Berlin ein Bild von den großen amerikanischen Städten machen, die in einigen Jahrzehnten in überstürztem Tempo hochgezogen wurden." (7) Im übrigen ist es erstaunlich festzustellen, dass viele Beobachter deutscher Städte mit einigen Jahren Abstand auch Bücher mit ähnlichen Absichten über Amerika publizieren. Dazu gehören Huret, Autor von Das moderne Amerika, Charles Huart, dessen New York wie ich es sah das Gegenstück zu seinem Berlin wie ich es sah ist, oder Victor Cambon, der nach dem Erfolg mit Die letzten Fortschritte Deutschlands, cohenreich Vereinigte Staaten veröffentlicht.

Abbildung 4:

Monotonie der Stadt

Nach Auffassung einiger Architekten und Urbanisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts haben die Haussmannschen Straßenzüge eine gewisse Monotonie der Stadt erzeugt, die im Gegensatz steht zur Vielfältigkeit und Weitläufigkeit der Stadt, wie sie etwas in Berlin verkörpert seit.

Internet-Quelle [7]

Der Dichter Jules Laforgue [8]  wies 1882 auf die Monotonie der Berliner Straßen hin. Unter den Linden sah er wie "ein doppeltes Spalier aus Monumenten, grau getüncht, kahl, kalt (...) wie Kasernen." (8) Huret unterstreicht fortan den Abwechslungsreichtum der Bauten in den neuen Vierteln, in denen die Häuser "fast alle unterschiedlich gestaltet sind." Er findet, dass "diese Anarchie eine charmante Fröhlichkeit gebiert", die er der "traurigen Einheitlichkeit unserer Straßen und Plätze" vorzieht. Er fordert die "verängstigten und eingefahrenen" Architekten auf, aus dieser Lektion "Kühnheit und Originalität" zu schöpfen. Ohne Zweifel ist der "wunderbare Luxus" der Fassaden manchmal nur falscher Schein, der Stuck bröckelt schnell ab und die Innenräume der großen Wohnungen werden nur annäherungsweise fertig gestellt. Aber ist das nicht im Grunde genommen deshalb so, weil diese Bauwerke, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten und ganz im Gegensatz zu Paris, nicht für die Ewigkeit gedacht sind: "Was interessiert das die Eigentümer und Unternehmer? In fünfzehn Jahren werden sie diese Gebäude abreißen, um an ihrer Stelle noch modernere und noch reichhaltiger ausgestattete zu errichten. Und darin verspüren wir einmal mehr die gegenwärtige Seelenverwandtschaft der amerikanischen und deutschen Sitten: Eine gemeinsame Schwäche für die Fassade. Trotz der Nachlässigkeiten aufgrund der Eile der Architekten und dem Hang zu Äußerlichkeiten kann man mit Fug und Recht behaupten, daß der Komfort in den Häusern genauso schnell steigt wie deren Anzahl. In den Wohnhäusern sind Aufzug, Telefon, Zentralheizung, Stromanschluß, Badezimmer für die Herrschaften und die Bediensteten, Warmwasser rund um die Uhr nicht wie in Frankreich die Ausnahme. Kein Haus wird mehr ohne diese Annehmlichkeiten gebaut. Man beginnt sogar in die Wände eingelassene Tresore, Eisschränke und auf den Dächern Wintergärten für Sonnenbäder hinzuzufügen." (9)

Abbildung 5:

Titelblatt des Buches "Professor Knatschke" von Hansi.
(Mülhausen 1913)

Beliebte Motive Hansis waren z. B. der deutsche Gelehrte, der Gendarm, die bürgerliche Familie. Sie wurden in ihren stereotypen Lebenssituationen dargestellt. Hansi war nicht nur in seiner Zeit sehr populär. Seine Karikaturen sind bis heute im Elsass weit verbreitet und prägen damit nach wie vor das Bild des Deutschen.

 

Quelle: Daniel Poncin, En Pays mal conquis: Les allemands vus par l'Alsacien Jean-Jacques Waltz, dit Hansi. In: J.-C. Gardes et D. Poncin (éd.): L'étranger dans l'image satirique. Poitiers 1994, S. 135-158.

Für seine Pariser Leser ist die Zielrichtung der Bemerkungen Hurets offensichtlich. Sie wenden sich implizit gegen die architektonischen Wiederholungen in der Haussmannschen Stadt. Während das Pariser Stadtbild in den Analysen der deutschen oder amerikanischen Verfechter der "City Beautiful" wie eine Nachhilfestunde für Maßstäbe und klassische Harmonie, ja wie das Bild einer "vollendeten" Stadt aufgefasst wird, berufen sich die Befürworter einer kontrastreicheren und pittoreskeren Anordnung der Wohngebäude entlang der Pariser Straßen auf das Berliner Beispiel. Dieses Interesse an den architektonischen Eingriffen nach deutschem Muster widerspricht dem von der deutschlandfeindlichen Literatur verbreiteten Bild, das sich über den Eklektizismus der im annektierten Elsass errichteten Gebäude lustig macht, wie zum Beispiel in "Le professeur Knatzschke" in den patriotischen Heften des Onkel Hansi. (10)

_______________________

Anmerkungen

(6) Dieses von Mark Twain geprägte Bild wurde von Walter Rathenau wieder aufgegriffen.

(7) Maurice Halbwachs, "Gross Berlin: grande agglomération ou grande ville?", Annales d'histoire économique et sociale, Bd. 6, 1934, S. 547 570, Ausgabe Paquot, S. 468.

(8) Jules Laforgue, Berlin, la Cour et la Ville, Paris, Éditions de la Sirène, 1922, wiederaufgelegt in OEuvres complètes, Genève, Slatkine, 1979, Vol. 6, S. 114 115.

(9) Jules Huret, En Allemagne Berlin, Paris, 1911, S. 26 28. Siehe auch: L'Amérique moderne, Paris, Pierre Lafitte, 1911.

(10)Karikaturistische Darstellung der deutschen Besatzer in Elsaß Lothringen.