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'Grundlinien von Fremdverstehen'
 
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Grundlinien von Fremdverstehen

Dem Ethnologen Clifford Geertz, der in seinen Studien fremde Kulturen teilnehmend beobachtet, geht es in erster Linie darum, kulturelle gesellschaftliche Ausdrucksformen zu deuten (vgl. Geertz 1999/6). Über die von ihm herausgestellte Beobachtungshaltung einer sogenannten "dichten Beschreibung" ist ein Zugang zum Verstehen fremder Kulturen nahegelegt, der im Folgenden in seinen Grundzügen nachgezeichnet wird und in Hinblick auf didaktische und methodische Möglichkeiten für eine europapolitische Bildung diskutiert und geprüft werden soll.

Geertz beschreibt bzw. nimmt eine Beobachtungshaltung ein, bei der es um das Erkennen und Durchschauen von äußerlich sichtbaren Zeichen, von kulturellen Ausdrucksformen geht. Vorherrschend ist die Vorstellung von einer zeichenmäßig geordneten und strukturierten sozialen Welt, nach der Einzelne ihr Handeln ausrichten. Zur Disposition stehen nicht etwa innere Zustände, nicht das, was eine bestimmte Person in einem bestimmten Moment denkt, fühlt usw.. Vielmehr setzt der Versuch, Welt zu verstehen und sich in einer fremden Welt zurechtzufinden, an den öffentlich zur Geltung gebrachten alltäglichen kollektiven Verhaltensweisen an. Mit Geertz wäre auf eine bewusst distanzierte Haltung gegenüber kulturell geprägten Ausdrucksformen besonders zu achten, um dem tieferen Sinn von Handlungen und Verhaltensweisen auf die Spur zu kommen.

Abbildung 3:

Clifford Geertz (rechts) beim Annual Meeting 1999 of the American Council of Learned Societies in Philadelphia, Pennsylvania, gemeinsam mit deren Präsident d'Arms (Mitte) und dem Präsidenten der Rockefeller-Stiftung, Gordon Conway (links).

Internet-Quelle [1]

Dem ethnologischen Beobachter und Interpreten geht es darum, besondere Zusammenhänge und Erkenntnisse herauszustellen, die "das Andere" betreffen. Das Erkenntnisinteresse gilt also den Bedeutungen, die die jeweils anderen ihren Handlungen usf., ihrer sozialen Welt zuschreiben (lokales Wissen). Es lässt sich insofern ein Bild imaginieren von jemandem, der die eigene Provinz verlässt und loszieht, um das Andere an anderen zu entdecken. Es geht gewissermaßen darum, gedankenexperimentell die eigene ethnische Herkunft abzustreifen und nicht etwa darum, das Eigene im Fremden wiederzuerkennen.

Um einen Zugang zu anderen, zu fremden Kulturen zu bekommen, reicht es demnach nicht aus, die eigenen Vorstellungen, Werte und Normen als Erklärungsmuster heranzuziehen, vielmehr wäre zunächst zu klären, welche Vorstellungen usf. andere ihrem Handeln zugrunde legen. Das, was als fremd, undurchschaubar, rätselhaft und geheimnisvoll (exotisch) erscheint, soll aus sich selber heraus als lokales Wissen erklärt und verständlich werden, indem z. B. Situationen, Rituale genauestens beobachtet, beschrieben und analysiert werden.

Überträgt man diese Zugriffsweise auf den Politikunterricht, so scheint nahe liegend zu beleuchten, was es mit dem lokalen Wissen der beteiligten Schülerinnen und Schüler auf sich hat. In der Sinnlogik von Geertz geht es jedoch gerade nicht darum, aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler zu fragen, was beispielsweise eine bestimmte Beobachtung mit ihnen selber zu tun hat. Aufgabe des Politikunterrichts wäre es vielmehr, eine Neugierde und Fragehaltung wach zu halten, die Fremdes vor dem Hintergrund eigener Vorstellung nicht vorschnell zu klären sucht oder gar abwehrt, sondern in bewusster Zurückhaltung eigener Wertvorstellungen und Normen sich vielmehr auf die Antworten einlässt, die im Fremden und Anderen aufzuspüren sind.

Doch zunächst noch einmal zurück zu Geertz, dem zufolge die Kultur eines Volkes "aus einem Ensemble von Texten" besteht, "die ihrerseits wieder Ensembles sind, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schulter derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen" (ebenda: 259). Hierzu lässt sich mit Fuchs/Berg kritisch anmerken: "Das Bild des über die Schultern der anderen Lesenden beschreibt [ ... ] eine asymmetrische Beziehung. Geertz malt nicht [ ... ] das Bild einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht, eines Dialoges des Ethnologen mit Angehörigen der betreffenden Gesellschaft über das >Gelesene< [...], sondern das Bild eines Erkenntnissubjekts, das hinter und über den Gesellschaftsmitgliedern verborgen, unsichtbar, an höchster und neutraler Position stehend sich die fremde Bedeutungswelt aneignet [ ... ]" (Fuchs/Berg 19993 : 57).

Als leitendes Prinzip gilt jedoch für Geertz: "Gesellschaften bergen wie Menschenleben ihre eigene Interpretation in sich; man muß nur lernen, den Zugang zu ihnen zu gewinnen." (Geertz 19996 : 260) Direkt angesprochen wird hier die Frage: Wie lernt man einen Zugang zum Verstehen des Fremden? Deutlich werden soll hier, dass es Geertz nicht um empathisches Einfühlen im engeren Sinne geht, sondern darum, "die Erfahrungen anderer Leute im Kontext ihrer eigenen Ideen über Person und Selbst" zu betrachten (ebenda: 294).

Abbildung 4:

"People tell these stories to themselves about themselves. The Balinese go to a cockfight to tell themselves who they are, to interpret themselves, in short, to find meaning in their lives. Thus, Geertz' definition of culture is not just methodological, advice on how to define about our object of study. His definition is a claim about what it means to be human. Geertz is arguing that making and finding meaning is what humans do. (…) In the cockfight, man and beast, good and evil, ego and id, the creative power of aroused masculinity and the destructive power of loosened animality fuse in a bloody drama of hatred, cruelty, violence, and death" (pp. 420-421). The cockfight "is fundamentally a dramatization of status concerns" (p. 437)."

Internet-Quelle

An späterer Stelle schreibt er: "Man stellt sich abwechselnd die Fragen: 'Welche allgemeine Form weist ihr Leben auf?' und 'Welches sind die materiellen Träger dieser Form, in denen sie sich verkörpert?', um schließlich zum Ende einer ähnlichen Spirale zu gelangen, mit dem Ergebnis, daß sie das Selbst als Kompositum, als Persona oder als Punkt in einem Muster sehen. [ ... ] Kurz, man kann Erklärungen der Subjektivität anderer Völker versuchen, ohne dazu übermenschliche Fähigkeiten der Selbstaufgabe und des Einfühlungsvermögens heucheln zu müssen" (308).

Insgesamt nimmt Geertz also eher eine Haltung ein, in der nicht "Nähe" gesucht wird, sondern die Zumutung des Fremden oder die "Fremdheitszumutung" (Ziehe 1996: 936 ff.). Hier lassen sich aber auch Bedenken anführen. Eine solche Neutralität und Objektivität wie sie Geertz für seine Beobachtungs und Forschungshaltung geltend macht ist dies überhaupt möglich?

Hier lässt sich kritisch weiterfragen: Was kann der Ausdruck anderer, den ich beobachte und versuche zu beschreiben, anderes sein als der Eindruck, den ich davon habe? Kann ich mich dabei von den eigenen inneren Bildern lösen? Und wirkt sich die Form der dichten Beschreibung (die ja nicht wie eine Filmaufnahme "wieder" holbar und reinterpretierbar ist) nicht auf die Interpretationen und die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, aus?

Mit Wolff scheint hier Skepsis angebracht: "Ist das, was Geertz behauptet, wirklich eine Rekonstruktion der Bedeutung, welche die betreffende soziale Handlungsweise für die Einheimischen besitzt, oder nur das, was Geertz heraus bzw. hineinliest?" (Wolff 2000: 95). So kann kritisch von einem Dialog gesprochen werden, den Geertz gewissermaßen mit sich selbst führe.

Ein anderer Kritikpunkt findet sich bei Reckwitz, der in diesem Zusammenhang "das Risiko einer >Illusion der autonomen Symbole" anspricht, insofern "die Voraussetzungen, unter denen die Rede von Bedeutungen >in< Symbolen [...] Sinn hat", nicht expliziert werden (Reckwitz 2000: 473). Vielmehr wäre also zu klären, inwiefern bzw. ob überhaupt den Beteiligten dasselbe wichtig ist, was dem Beobachter und Interpreten wichtig ist. Reckwitz zufolge schreibe Geertz "beobachtungsfiktionalistisch" Bedeutungen zu, also Bedeutungen, "die im Sinnhorizont des Kulturwissenschaftlers wurzeln und für das soziale Kollektiv selbst möglicherweise keine Relevanz besitzen" (ebenda: 476). So komme man "ohne einen Rekurs auf das Verstehen und Wissen der Teilnehmer" nicht aus, will man Symbolen einen öffentlichen Sinn zuschreiben (476).