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'Vom Charakter zur Handlung'
 
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Vom Charakter zur Handlung

Wie steht es nun um die Tradition, die das deutsche Theater und das Spiel der deutschen Schauspieler bedingt? Verglichen mit der französischen Situation im 18. Jahrhundert erscheint die deutsche, der Autoren wie Lessing und diejenigen des „Sturm und Drang [1] “, Goethe und Schiller ausgesetzt sind, vorstaatlich. Gegen die Vorherrschaft der französischen Kultur und des klassischen Geschmacks wenden sie sich Shakespeare zu, der mit Goethe und Schiller zum dritten klassischen Autor Deutschlands wird. Die deutsche Klassik geht nicht ohne weiteres mit der Entwicklung einer Staatsform einher. Und sie fällt auch nicht, obwohl sie danach strebt, mit der Verwirklichung einer nationalen Einheit zusammen. Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass deutsche Dramatiker wie Lessing, Lenz, Schiller, Goethe, aber auch Kleist und Büchner dem Charakter einen höheren Stellenwert gegenüber der Handlung einräumen; sie kehren so das von Aristoteles in seiner Poetik festgelegte Gesetz um. Was die Dramatiker beschäftigt und das Spiel der Schauspieler leitet, ist der Charakter, das Sein des Charakters, das Bewusstsein des Helden. Und die Handlung wird als Interaktion zwischen Charakteren aufgefasst. Die Bewegung des klassischen deutschen Theaters besteht darin, vom Charakter zur Handlung zu gehen, im Gegensatz zu den Vorschriften von Aristoteles, der das Theater als Darstellung (Mimesis) einer Handlung mit Hilfe von Charakteren definiert und unterstreicht, dass man sich eine Tragödie ohne Charaktere, aber niemals ohne Handlung vorstellen könne. In der deutschen Tradition muss der Charakter die Handlung erfinden. Das Spiel des deutschen Schauspielers hat etwas Prometheisches, indem der Charakter die Handlung erfindet.

Täuschen wir uns nicht. Ich will nicht sagen, die klassische französische Dramaturgie sei Aristoteles treu, die deutsche Dramaturgie aber nicht. Denn die klassische französische Dramaturgie ist es auch nicht: sie gibt eine juristische Interpretation von Aristoteles' Poetik, indem sie Gesetze über die Einheit von Ort, Zeit und Handlung macht, wogegen bei Aristoteles einzig die Einheit der Handlung zwingend ist. Es gibt also eine Kodifizierung der Handlung in einem Zeit-Raum, der auch ein bestimmter öffentlicher Raum ist, der monarchische Raum einer mit dem souveränen Staat verbundenen Hofgesellschaft. In diesem juristisch definierten Raum ist der Charakter von Anfang eingebunden. Sobald diese politische, öffentliche und juristische Dimension außer acht gelassen wird oder verloren geht, fehlt den französischen Theaterstücken sowohl Gegenstand wie Herausforderung, sie werden zu Konversationsstücken.

Diese beiden gegensätzlichen Interpretationen von Aristoteles verweisen auf zwei unterschiedliche Traditionen, deren Unterschied heute noch in den Aufführungen der einen wie der anderen eindeutig erkennbar ist. Auf der einen Seite ein Spiel der personnage en représentation, eine Dialektik des Seins und des Scheins, wobei der Schein vorrangig ist; auf der anderen Seite eine Dialektik des Seins und des Scheins, wobei das Sein vorrangig ist. Unter diesem Blickwinkel könnte man die Inszenierungen von Patrice Chéreau und Peter Stein [2] vergleichen.