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'"Le petit chaperon rouge" und der böse BRD-Wolf '
 
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"Le petit chaperon rouge" und der böse BRD-Wolf

Drei weitere Bilder, die zwar im Abstand von einigen Monaten bzw. Jahren völlig unabhängig voneinander entstanden sind, auch von verschiedenen Zeichnern stammen, lassen sich für den Betrachter a posteriori zu einer Rotkäppchen-Serie gruppieren. Märchen-Einkleidungen ebenso wie sonstige Anspielungen auf literarische Texte, historische Ereignisse u. ä. haben für den Karikaturisten den Vorteil, dass er nur eine Figur evozieren, eine Szene darstellen muss, und schon wird im Kopf des Betrachters die ganze Geschichte aktualisiert. Aufgrund ihres Geschlechts und ihrer charakteristischen roten Kopfbedeckung ist die französische Nationalallegorie geradezu prädestiniert zur Verschmelzung, "Amalgamierung", mit der Rotkäppchen-Figur. Damit ist auch gleich die zweite Hauptrolle definiert, fragt sich nur noch, wie sie besetzt werden soll. Der von der DDR-Presse nachdrücklich dargestellte westdeutsch-französische Antagonismus lässt nicht lange an der Ideal-Besetzung zweifeln: nur Adenauer und/oder deutsche Uniformträger kommen in Frage. Auch hier ist aber eine doppelte Determiniertheit festzustellen, wurden doch in Frankreich - was DDR-Zeichner gewusst haben dürften - die deutschen Invasoren gerne als Wölfe dargestellt, und zwar in Wort (vgl. das bekannte Chanson Les Loups sont entrés dans Paris) und Bild (vgl. Calvos nicht minder berühmten Resistance-Comic: La Bête est morte). Diese Animalisierung hat zudem Tradition und wurde - freilich in differenzierterer Funktionalität - auch schon von Daumier in bezug auf Deutschland bzw. Preußen verwendet (8). Überdies kann der Wolf als überzeitliche, geradezu archetypische Verkörperung des Bösen gelten (9).

Abb. 9: " '... und warum hast du
so große Zähne?' 'Damit ich dich besser fressen kann!' "
(Peter Dittrich)

 

 

Frischer Wind 50/1953, S. 13

Abb. 10: "Das französische Rotkäppchen", dazu der Text: "Erzähl das EVG-Märchen deiner amerikanischen Großmutter, nicht mir!"
(Jean Effel)

 

 
Eulenspiegel 20/1954, S. 1

Der Zeichner P. Dittrich braucht dann nichts anderes zu tun, als den Wolf mit amerikanischer Flagge zu bedecken, "Adenauer" auf das Stück Tuch zu schreiben, diesem Wesen eine Maschinenpistole umzuhängen, einen Stahlhelm aufzusetzen - und fertig ist das Märchenungeheuer, ein bundesdeutsch-amerikanischer Bastard, dessen künftige Missetaten als bereits bekannt vorausgesetzt werden können (Abb. 9). Der zusätzlichen Beglaubigung der hybriden deutsch-amerikanischen Bedrohung dient ein hinter einem Baum hervorschauender Eisenhower, der als Zwerg auftritt. Die Wahl dieser Rolle dürfte zwei Gründe haben: zum einen dient sie der visuellen Stimmigkeit, der Aufrechterhaltung des Märchenschemas, zum anderen wird damit der Bundesrepublik zunächst einmal die Agens-Funktion zugewiesen, während Amerika im Sinne Proppscher Märchentheorie in der bescheidenen Rolle des Adjuvans auftritt. Doch Zwerge sind listig, und so mag er auch als Schein-Adjuvans zu deuten sein, der in Wirklichkeit im Hintergrund die Fäden in der Hand hält. Darauf deutet jedenfalls die erwähnte Flagge hin, ein starkes nationales Identitätssymbol. Wenn Adenauer unter amerikanischer Flagge auftritt, so ist das zum einen Zeichen "vaterlandsloser Gesinnung", zum anderen kann somit Amerika als der Kommanditeur des sich vorbereitenden Verbrechens und eigentlicher Handlungsträger betrachtet werden. Die Frage lässt sich nicht endgültig beantworten, das Bild hält die Deutungsmöglichkeiten in der Schwebe - ein subtiles Spiel mit Zeichen und ineinander verwobenen Bedeutungen, wie es in diesem Ausmaß vielleicht nur der Gattung Karikatur möglich ist.

Im übrigen hat Rotkäppchen nicht nur das Pech, dem Wolf zu begegnen, sie ist offenbar ganz und gar vom rechten (linken) Weg abgekommen, denn die ganze Umgebung, der Wald, ist faschistoid, wie scheinbar unschuldige Naturelemente bezeugen: am Boden liegende Zweige fügen sich zu Hakenkreuzen - u. dgl. m.

Während Dittrichs Darstellung der Logik des Märchens folgt, bedient sich Effel seiner, um es umzufunktionieren (Abb. 10). Im bereits festgestellten Sinn der Affirmation einer militanten und starken Marianne wird hier Rotkäppchen gar nicht erst gefressen, sondern sie weiß sich selbst zu wehren gegen den bundesrepublikanischen Wehrwolf. Ihr Verhalten verstößt gegen das Märchenschema, und auch mit Hilfe der Bildlegende wird die altvertraute Geschichte umfunktioniert. Die Realität wird nicht eigentlich in Märchenform eingekleidet, sondern ein höchst realer und realpolitischer Plan - der EVG-Vertrag - wird als Märchen denunziert, als verdammungswürdige Fiktion. Dieses Spiel mit der Gattung setzt sich fort mit der Großmutter - zum einen eine Märchenfigur, zum anderen eine realitätsfremde Amerikanerin, die an (politische) Märchen glaubt. Auch ihr wird hier "Bescheid gestoßen".

Abb. 11: "Zwanzig Jahre später", dazu der Text: "Jetzt, lieber guter Wolf, bist du mir herzlich willkommen. Und die bösen Algerier darfst du natürlich beißen!"
(Kurt Poltiniak)

 


Eulenspiegel 36,1959, S. 1

Doch die Geschichte ging andere Wege, als sie Effel imaginierte, und Rotkäppchen ging schließlich doch mit dem Bundes(wehr)wolf. Das führt zum letzten Bild aus dieser Serie, das - ohne dass es dem Zeichner bewusst gewesen sein dürfte - den Abschied von einem gewissen Frankreich-Bild der DDR inszeniert: Adieu, republikanischer Mythos. Das in Frage stehende Bild (Abb. 11) zeigt de Gaulle als Rotkäppchen am Arm des westdeutschen Wolfes. Auf den ersten Blick mag das als eine weitere Realisation der alten Bedrohungsgeschichte erscheinen. Signifikant ist aber bereits die Veränderung der Situation. Rotkäppchen und der Wolf sind in dieser Inszenierung sichtlich bereits dicke Freunde, und der Zeichner hat dieser liaison dangereuse ihre Gefährlichkeit für Rotkäppchen dadurch genommen, dass diese als viel größer - also nach allen Zeichen-Konventionen als mächtiger und stärker - als der Wolf dargestellt wird. Im übrigen ist dieses Rotkäppchen alles andere als naiv. Listig bietet es seinem bestialischen Partner eine kolonialistische Kumpanei an, von der beide profitieren können und sollen. Im übrigen konnte selbst ein "mariannisierter" de Gaulle unter den in der DDR gegebenen Bedingungen weder für Produzenten noch für Rezipienten von Karikaturen als Inkarnation der bislang so geschätzten linksrepublikanischen Traditionen gelten. Die Jakobinermütze wird in dieser Inszenierung nicht mehr als Zeichen einer politisch-ideologischen Tendenz verwendet. Sie wird folklorisiert als Bestandteil einer Art Trachtenanzug, sie wird zum bloßen nationalen Kennzeichen, ähnlich wie in der bundesrepublikanischen Bildsatire. Drei Jahre nach dem Wahlsieg des Front Republicain wird Abschied genommen von einem Bild, das Frankreich zunächst und vor allem als Land der Revolution, als Opfer des alten und potentielles Opfer des alt-neuen faschistoiden Militarismus, als Anti-Bundesrepublik und damit implizit als potentiellen, geradezu "natürlichen" Partner der DDR darstellte. Frankreich ist definitiv zum Partner der Bundesrepublik geworden und hat damit eine gewisse Sonderstellung, die es bislang im deutsch-demokratischen imaginaire collectif einnahm, verloren.

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Anmerkungen

(8) Vgl. hierzu Dieter Ewald: "Preußen und Frankreich 'fabelhaft' inszeniert. Zur Funktion von Fabelzitaten bei Daumier", in: Andre Stoll (Hg.): Die Rückkehr der Barbaren: Europäer und "Wilde" in der Karikatur Honore Daumier s. Christians, Hamburg 1985, insbes. S. 378 und 398.

(9) Die - vom Märchen bereits vorgegebene - Wolfs-Metapher taucht auch in anderen Inszenierungen wieder auf. Die karikaturtypischen Animalisierungen knüpfen dabei gerne an die nationale Tieremblematik an: der bundesrepublikanische Wolf als Bedroher des gallischen Hahns, eine weitere sinnfällige, effiziente und durch Rekurs auf vorhandene Zeichensysteme unmittelbar plausible visuelle Strategie.

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