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'Bewertungen aus heutiger Sicht'
 
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Bewertungen aus heutiger Sicht

Dieses düstere Bild der Auswirkungen der Versuche einer Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkriege hellt sich ein wenig auf, wenn der Vertrag von Versailles in die Reihe der Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts gestellt wird (19). Dann wird deutlicher, dass der Versailler Vertrag in seinen inhaltlichen Bestimmungen nicht eben sonderlich radikaler gewesen ist als viele andere Friedensverträge. Es war die überhitzte nationalistische Atmosphäre am Ausgang des Krieges, die infolge des Aufstiegs der Massendemokratie, der schon während des Weltkrieges eingesetzt hatte und sich nach Kriegsende mit großer Beschleunigung fortsetzte, wie ein Buschbrand immer weitere Kreise in ihren Bann zog. Nüchterne machtpolitische Arrangements traditionellen Stils wurden dadurch zu einer Unmöglichkeit gemacht. Es war dieser neue Nationalismus, der den Pariser Verträgen ihre politisch überwiegend destruktive Sprengkraft verlieh.

Eine der wegweisenden Devisen Woodrow Wilsons (Bild) war es, durch die Pariser Vorortverträge die Welt sicherer zu machen für eine demokratische Entwicklung (to make the world safe for democracy) Das Werk der "Friedensmacher" von Paris lag jedoch schon nach wenigen Jahren weithin in Trümmern; Europa war weiter denn je zuvor von der Devise Woodrow Wilsons entfernt. (vgl. Text).

 

Quelle: teachpol.tcnj.edu/amer_pol_hist/fi/00000114.htm

Man könnte sich auch einer contrafaktischen Argumentation bedienen und fragen, welche Regelungen denn anstelle der explosiven Mischung der "Neuen Diplomatie" Woodrow Wilsons einerseits und der traditionellen Machtpolitik herkömmlichen Stils andererseits, untermischt mit Elementen eines integralistischen Nationalismus, denn hätten Platz greifen sollen? Es ist ersichtlich, dass eine einfache Antwort darauf nicht zu finden ist. Tatsache ist, dass die Diplomaten und Staatsmänner im Detail zwar vieles hätten anders machen können und machen müssen, aber grundsätzliche Alternativen waren damals nicht zur Hand und sind auch heute nicht erkennbar.

Ein nüchterner Blick auf den Vertrag von Versailles ergibt überdies, dass dieser auf völkerrechtlichem Felde bedeutsame Innovationen gebracht hat, die heute allgemein akzeptiert sind, wie die Ächtung des Angriffskrieges und die Idee der Vereinten Nationen als Instrument der Friedenswahrung (20). Auch die direkten und indirekten Auswirkungen der Pariser Vorortverträge auf die imperialistische Politik der europäischen Mächte sollte nicht aus dem Auge verloren werden. Die Idee der trusteeship, die hinfort als einzige Legitimation kolonialer Herrschaft anerkannt wurde, hat zwar dem Kolonialismus, der in den 20er Jahren nahezu unverändert fortbestand, keinesfalls ein Ende gemacht, aber doch den Emanzipationsbewegungen in der Dritten Welt, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Trägern des Dekolonisierungsprozesses wurden (21), bedeutenden moralischen Auftrieb gegeben.

Heute würden die Deutschen sich glücklich schätzen, wenn sie unter Bedingungen leben könnten, wie sie nach 1919 bestanden, aber möglicherweise, würden sie dies gar nicht mehr wollen. Eine starke militärische Machtstellung herkömmlichen Stils, gestützt auf eine große Armee, wie sie die deutschen Unterhändler in Versailles als Idealziel vor Augen hatten, wollen sie selbst nicht mehr. Die wirtschaftlichen Diskriminierungen des Versailler Vertrages sind heute bedeutungslos geworden. Den ehemals deutschen Kolonien weint niemand mehr nach, und an die riesigen Schuldenlasten der Zwischenkriegsjahre erinnert nur noch die Existenz einer Bank für internationalen Zahlungsausgleich in Basel, die freilich längst zu einer gewöhnlichen internationalen Geschäftsbank geworden ist. Die Aussöhnung mit Frankreich und mehr noch die Versöhnung mit Polen und den anderen osteuropäischen Völkern ist erreicht, und die heute noch ungleich enger gezogenen Grenzen Deutschlands sind nicht mehr umstritten. Auch die Sicherheitsbedürfnisse unserer europäischen Nachbarn, allen voran Frankreichs, gegenüber Deutschland sind kein Thema.

Die Realität eines zusammenwachsenden Europas hat das düstere Bild der Versuche einer Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg längst überlagert. Damit ist auch die verhängnisvolle Schieflage der politischen Mentalitäten der europäischen Völker, die sich in der Zwischenkriegszeit entwickelt hatte, überwunden. Sie hat einer neuen Europavorstellung Platz gemacht, die nunmehr tatsächlich eine sichere Basis für die demokratische Entwicklung darstellt, wie sie einst Woodrow Wilson vorschwebte.

 

Quelle: Dialog – Deutsch-polnisches Magazin, Nr. 66-67, 2004 (Titelbild)

Unter solchen Umständen bestehen günstige Voraussetzungen für eine kritische Bestandsaufnahme aus historischer Sicht, die frei ist von den nationalistischen Leidenschaften, die 1919/20 in allen Ländern, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, den Blick für einen nüchternen Blick auf die Tatsachen verstellten, und die nicht mehr danach fragt, ob die Deutschen denn die Reparationen tatsächlich hätten zahlen können oder nicht, und sich ebenso nicht mehr mit der Frage aufhält, in welchem Umfang die territorialen Neuordnungen, über die inzwischen ein neuer gewaltiger kriegerischer Sturm hinweggefegt ist und diese weithin zu Makulatur gemacht hat, gerechtfertigt waren. Es ist daher angebracht, wenn die historische Forschung, wie es in diesem Beitrag geschieht, die verhängnisvolle Schieflage der politischen Mentalitäten der europäischen Völker in der Zwischenkriegszeit zur Darstellung bringt.

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Anmerkungen

(19) Vgl. Jost Dülffer, Versailles und die Friedensschlüsse des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Ebenda, S. 17-34.
 
(20) Vgl. Thomas Würtemberger und Gernot Sydow mit ihrem bemerkenswerten Beitrag über "Versailles und das Völkerrecht", in: Ebenda, S. 35-52, der deutlich zeigt, wie weit sich die Voraussetzungen für eine Beurteilung des Versailler Vertrages aus völkerrechtlicher Sicht im letzten Halbjahrhundert verschoben haben.
 
(21) Vgl. Jürgen Zimmerer, Von der Bevormundung zur Selbstbestimmung. Die Pariser Friedenskonferenz und ihre Auswirkungen auf die britische Kolonialherrschaft im südlichen Afrika, in: Ebenda, S. 145-158, hier S. 153.

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