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Einführung

Seit 1904 begrenzen die Schwächung der Bündnisse und die Bildung eines antagonistischen Systems, der Tripelentente zwischen Frankreich, England und Russland, die Handlungsspielräume des Deutschen Reiches. Um diese Situation besser zu verstehen, muss die Weltpolitik jener Zeit näher betrachtet werden. Wilhelm II., der eines Tages verkündet hat: "Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser", strebt nach einer Kriegsflotte. Drei Flottengesetze nacheinander verschaffen Deutschland auf Initiative von Admiral Tirpitz eine Hochsee- und U-Boot-Flotte. Offiziell soll sie die deutschen Interessen in der Welt schützen, aber in Wirklichkeit will Deutschland sich mit Hilfe dieses neuen Druckmittels bei künftigen internationalen Verhandlungen mehr Gewicht verschaffen.

Die Karte zeigt Europa im Jahr 1914. Es fällt auf, dass die Zahl der Staaten im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrhunderten (1648) deutlich abgenommen hat. Zwei deutsch dominierte miteinander verbündete Reiche liegen im Zentrum des Kontinents: Deutschland und Österreich-Ungarn. Sie bilden den Kern des kommenden Konflikts.

Quelle: www.herodote.net/mot14180.htm

Die Umsetzung dieses Vorhabens wird von Großbritannien als direkte Bedrohung angesehen und fördert die französisch-englische Annäherung (Entente cordiale von 1904), später die englisch-russische Verständigung. In der Kolonialpolitik, in der nur begrenzte Zugewinne zu erwarten sind, versucht Deutschland erfolglos das Vordringen Frankreichs in Marokko zu verhindern; Verhandlungen über eine Aufteilung der Kolonialreiche von Portugal und Belgien bleiben wirkungslos. Während ein deutsches Mittelafrika ein Wunschtraum bleibt, gelingt die Stärkung der deutschen Positionen im Osmanischen Reich: Zu Beginn des Jahres 1914 erhält Deutschland eine Beteiligung an der Ausbeutung der Erdölvorkommen von Mossul und den Zuschlag für den Bau einer Eisenbahnlinie von Istanbul nach Bagdad (Bagdadbahn). Gleichzeitig wird eine Militärmission zur Ausbildung der türkischen Armee entsandt. Diese Kooperationen bereiten den Kriegseintritt des Osmanischen Reichs auf Seiten der Mittelmächte vor.

Das gravierendste Problem besteht allerdings darin, dass die europäischen Bündnisse bröckeln und ihre potenziellen Gegner stärker werden. Zwar hat Italien 1912 den Dreibund erneuert, es bleibt jedoch ein unsicherer Kantonist und bietet seine Unterstützung nur für den unwahrscheinlichen Fall eines Defensivkrieges an. Der innere Zusammenhalt des treuen Österreich wird durch die Slaven bedroht, durch die Intrigen Russlands, welches das kleine Serbien unterstützt, das zum Todfeind des Habsburgischen Reiches geworden ist. Kann Deutschland im Falle eines Balkankrieges, der die Integrität Österreich-Ungarns bedrohen würde, einfach passiv bleiben? Bismarck hatte zu seiner Zeit stets geantwortet, seine Pflicht bestünde darin, seinen Verbündeten von einem Konflikt mit Russland abzuhalten. 1912 fällt die Analyse der führenden deutschen Politiker anders aus: Die Wahrnehmung der russischen Gefahr führt nicht nur zur Unterstützung Österreichs, sondern auch zu der Option eines Präventivschlags.

Der Balkan im Jahr 1908 (links) und 1914 (rechts).

Quelle: links [1] / rechts [2]

Die Diskussion geht über die politische Situation auf dem Balkan und die deutsch-russischen Beziehungen hinaus. Politische und militärische Führer sowie ein Teil der öffentlichen Meinung haben den Eindruck, dass Deutschland überall blockiert werde, ja Opfer einer Einkreisung sei. Die englische, immer noch weltweit stärkste Flotte sei mit Unterstützung der französischen Marine in der Lage, eine Blockade Deutschlands zu bewerkstelligen. Allerdings verfügt Deutschland über die zahlenstärksten, am besten ausgestatteten und vielleicht sogar am besten geführten Landstreitkräfte der Welt in Friedenszeiten. Angesichts der demographischen Ressourcen könnte ihre Truppenstärke in Kriegszeiten die französische Armee weit übertreffen. Jedoch müssten sie an zwei Fronten kämpfen, um die hohe Zahl russischer Truppen in Schach zu halten. Diese internen Diskussionen über einen Präventivkrieg sind geheim geblieben und hindern Wilhelm II. nicht, sich aus Anlass des 25jährigen Jubiläums seiner Thronbesteigung (1913) als Friedenskaiser darstellen zu lassen.

Am Vorabend des Krieges ist Deutschland ein wohlhabendes Land, das sich rasch entwickelt, obwohl starke innere Spannungen ungelöst bleiben. In den Bereichen der industriellen Produktion, der Handelsstrukturen, des Städtebaus, der wissenschaftlichen Forschung zählt es zu den modernsten Ländern. Obwohl Deutschland sich als dominierende Weltmacht nicht durchgesetzt hat, hat es einen Platz an der Sonne gefunden. Ängste, Frustrationen und Machstreben bewegen die deutsche Führung dennoch dazu, einen europäischen Krieg in Betracht zu ziehen. Er wird nicht lange auf sich warten lassen.

Erzherzog Ferdinand, Erbe der österreich-ungarischen Krone, und seine Ehefrau wenige Minuten vor dem Attentat in Sarajewo am 28. Juni 1914

Quelle: www.westfront.de/00306.htm

Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers, Erzherzog Prinz Franz Ferdinand, ist der Ausgangspunkt eines Prozesses, der im Laufe eines Monats zum Ersten Weltkrieg führt. Anstatt Europa in Brand zu stecken, hätte man auf dieses Verbrechen mit friedlichen Mitteln reagieren können. Die deutschen Verantwortlichen gehen das Risiko ein, ihren österreichischen Verbündeten, koste es, was es wolle, bei einer Kraftprobe mit Serbien zu unterstützen, von der sie wissen, dass sie zu einem allgemeinen Krieg führen kann. Dieses Risiko gehen sie in vollem Bewusstsein ein. Schon seit zwei Jahren wurde über einen Präventivkrieg nachgedacht. Muss nun nicht die Gelegenheit ergriffen und zur Tat geschritten werden?