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'Ein 'gallischer Rhein'?'
 
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Ein "gallischer Rhein"?

 

 

 

 

 
Internet-Quelle [1]

Der Erste Weltkrieg [2]  markiert auch in der Geschichte der Geschichtsschreibung und zumal der deutschen-französischen eine Wende (1). Vor 1914 galt die deutsche Historiographie weltweit als Vorbild, und auch in Frankreich besaßen die deutschen Historiker trotz evidenter nationaler, politischer oder weltanschaulicher Gegensätze ein hohes Ansehen (2). Mit dem Kriegsausbruch, dem Überfall auf Belgien und dem "Aufruf der 93" - unter denen sich bekanntlich viele Historiker befanden - zerbrach der akademisch-diplomatische Minimalkonsens (3). Nicht nur mit Empörung, auch mit einer gewissen "traurigen Überraschung" notierte die Revue historique, die stets ein Organ der internationalen Verständigung gewesen war, die Namen der Unterzeichner und kommentierte dann: "Alle diese Gelehrten beherrschen die Textkritik. Mit ihrer strengen Methode haben sie wichtige Teile der alten, mittelalterlichen und neueren Historie erneuert. Aber als sie sich vor ein so schwerwiegendes Problem der Zeitgeschichte gestellt sahen, haben sie ganz plötzlich und wie auf Kommando die Prinzipien ihres eigenen Unterrichts und ihrer Bücher vergessen." (4) Die bald darauf in Deutschland einsetzende Annexionsdiskussion, an der sich ja auch die sogenannten "gemäßigten" Hochschullehrer beteiligten, tat ein übriges, um jeden Gedanken an transnationale Gemeinsamkeiten zu zerstören. Statt dessen erinnerte man sich in Frankreich an unerfreuliche Reiseerfahrungen oder an weit zurückliegende Lektüren - wie etwa an Treitschke [3] , dem Durkheim eine eigene Broschüre über die "deutsche Mentalität" widmete. (5) Der Wirtschaftshistoriker Henri Hauser - später ein Mitarbeiter der Annales - sprach 1915 von einer "optischen Täuschung", der die Franzosen jahrzehntelang in bezug auf Deutschland aufgesessen seien. Damit meinte er weniger das deutsche Militär, über das sich niemand Illusionen machte, sondern vor allem die deutschen Industriellen, deren Aggressivität, und: die deutschen Intellektuellen, deren Intoleranz man unterschätzt habe. (6)

In der intellektuellen Auseinandersetzung der Kriegsjahre, die von den Beteiligten als eine Art "Ersatzdienst" fürs Vaterland begriffen wurde, ging es denn auch darum, reale oder vermeintliche Versäumnisse auszugleichen, den Gegner möglichst empfindlich, also dort wo es um seine "Identität" ging, zu treffen und das von ihm okkupierte Terrain möglichst zurückzuerobern. Als eines der ergiebigsten Themen bot sich hierfür der Rhein an (7). In Verbindung mit der Losung vom Kampf um die "natürlichen Grenzen" Frankreichs hatte er schon während der Revolutionskriege [4]  eine mobilisierende und legitimierende Rolle gespielt (8). Und auch im 19. Jahrhundert hatte er wiederholt als deutsch-französischer Zankapfel gedient - bis hin zur Annexion Elsass-Lothringens [5]  und damit zur vollständigen Verdrängung Frankreichs vom Rhein (9). Man brauchte also gar nichts Neues zu erfinden: Die deutsch-französische Erbfeindschaft schien durch den Rhein seit der Antike vorgegeben, und die bloße Frage, ob der Rhein Frankreichs Grenze oder aber ein Strom durch deutsches Gebiet sei, determinierte von vornherein eine Verfeindung beider Seiten (10).

Das Reichsland Elsaß-Lothringen

 

 

 

Internet-Quelle [6]

Über diese Streitfrage entstand im Lauf des Krieges und erst recht in den Nachkriegsjahren eine umfangreiche Literatur: Bücher, Broschüren und Publikationsreihen, betreut von prominenten Herausgebern und diversen Komitees (11). Die französische Seite musste zwangsläufig in die Offensive gehen und eine Änderung der Vorkriegsgrenzen fordern: Die Rückkehr Elsass-Lothringens, also die Rückkehr Frankreichs an den Rhein war die Basis; darüber hinaus ging es aber um die Zukunft des linken Rheinufers insgesamt, denn alle Sicherheitsszenarien der Generalität und vieler Politiker sahen ab 1917 entweder eine totale Annexion oder eine dauerhafte Abtrennung und Verselbständigung der linksrheinischen Gebiete vom übrigen Deutschland vor (12)

Der enorme ideologische Druck, unter dem die Frage des Rheins, also der Grenze zu Deutschland in Frankreich diskutiert wurde, hat natürlich auch die Historiker erfasst. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Im Jahr 1915 veröffentlicht Camille Jullian [7]  ein kleines Buch, das mit dem Satz beginnt: "Das Studium der Vergangenheit darf nicht durch die Leidenschaften der Gegenwart verfälscht werden (13)." Und er fährt fort: "Andere Zeiten, andere Grenzen. Nichts ist gefährlicher für den allgemeinen Weltfrieden, als in der Vergangenheit nach Waffen zu suchen, um künftige Eroberungen zu begründen."  Und weiter: "In den politischen Verhältnissen von vor tausend oder zweitausend Jahren die wichtigsten Gründe zu suchen, um [heute] Ansprüche zu erheben und [Landstriche] zu annektieren, hieße die schlimmsten Verfahren unserer Gegner zu imitieren." 

Camille Jullian






(1859-1933)

Aber allein schon der Titel des Buches ist Programm: Le Rhin gaulois. Dabei will Jullian den Verdacht einer Propagandaschrift gar nicht erst aufkommen lassen und betont, dass er nicht über die Zukunft des Flusses spreche: "Was morgen aus ihm [dem Rhein] werden wird, haben unsere Führer zu entscheiden, nach den Maßstäben menschlicher Gerechtigkeit und gemäß den Rechten und Interessen Frankreichs. Die Gallier haben mit dieser Sache nichts zu tun. Aber ich füge hinzu, auch die Germanen sollten in diesem Zusammenhang nicht erwähnt werden. Denn wenn man diese beiden Wörter, Rhein und Germanen, miteinander verbindet, wenn man diese beiden Wesen, diese historischen und geographischen Persönlichkeiten ständig miteinander verknüpft, so begeht man [...] eine retrospektive, lügnerische, ja sogar kriminelle Annektion..." (14). So skizziert Jullian Kapitel für Kapitel die Ur- und Frühgeschichte des Rheins als keltischem Gott und der Rheineben als keltischem Siedlungsraum. Nur durch Invasion und Infiltration konnten sich einige germanische Völkerschaften auf dem Westufer festsetzen. Das Elsass freilich, war und blieb stets keltisches Gebiet. Auch später, nach der Völkerwanderung, hätten sich die Franken so sehr in Gallien assimiliert, dass sie sich nicht mehr als Germanen begriffen und gegenüber den Barbaren im Osten den "gallischen Rhein" als "natürliche Grenze" in ihrem Denken fixierten.

Das zweite Beispiel: Auf Initiative der französischen Regierung wurde im Februar 1917 ein sogenanntes Comité d'Etudes gebildet, eine Expertenrunde, der die bedeutendsten Geschichts- und Geographie-Professoren der Pariser Hochschulen angehörten. Die Liste der Teilnehmer reichte von dem Keltologen Camille Jullian, dem Althistoriker Ernest Babelon (Verfasser eines zweibändigen Buchs über den "Rhein in der Geschichte"), über die Revolutionshistoriker Alphonse Aulard und Philippe Sagnac, den Mediävisten Charles Seignobos, den Mitteleuropa-Experten Ernest Denis und den Elsass-Spezialisten und Herausgeber der Revue historique, Christian Pfister, bis hin zu Ernest Lavisse. Hinzu kamen die Geographen Paul Vidal de la Blache [8] , Lucien Gallois und Emmanuel de Martonne.

Paul Vidal de la Blache








(1845-1918)

In wöchentlichen Sitzungen, die im Kartensaal des geographischen Instituts stattfanden, arbeitete dieses Komitee die historischen, politischen und ökonomischen Probleme zunächst der ostfranzösischen Grenzräume und später - in erweiterter Runde - auch anderer europäischer Konfliktzonen auf, um die Regierung im Hinblick auf künftige Friedensverhandlungen zu informieren und ihr einen wissenschaftlich abgesicherten Forderungskatalog vorzuschlagen. Die auf diese Weise erarbeiteten Materialien (Referate, Diskussionen, Kartenwerke) stellen eine Art Resümee des französischen Forschungsstandes über Elsass-Lothringen, das Saar-Gebiet, Luxemburg und vor allem die Rheinlande dar (15). Im Ergebnis wurde natürlich eine Revision der Verträge von 1871 sowie Reparationsleistungen und militärische Garantien gefordert. Bemerkenswert ist aber, dass kein einziger Referent - mit Ausnahme eines Generals - eine definitive politische Annexion des linken Rheinufers für politisch wünschenswert hielt: Zwar gebe es, wie z.B. Aulard, Sagnac und Denis zu zeigen versuchten, im Rheinland durchaus noch hie und da pro-französische "Gefühle", aber sie reichten nicht aus, um aus militärstrategischen Gründen der Mehrzahl der Bevölkerung die französische Nationalität aufzuzwingen. Wie vor allem Charles Seignobos betonte, müsse die traditionelle Politik der Gebietsabtretungen durch eine "neue Methode" völkerrechtlich anerkannter und legitimer Verträge ersetzt werden, selbst wenn dies, wie er ausdrücklich zugestand, "den Verzicht auf einen unrechtmäßigen [d.h. militärischen] Vorteil" mit sich bringen würde (16). Neben der Rückgabe Elsass-Lothringens forderte er daher "nur" finanzielle Entschädigungen (z.B. in Form der Saar-Bergwerke), Zahlungsgarantien (z.B. mittels militärischer Besetzung) sowie Sicherheit vor einem neuerlichen Angriff - aber nicht durch strategische Grenzveränderungen, sondern durch politische Maßnahmen (wie z.B. Abrüstung bzw. Auflösung der deutschen Armee und internationale Schlichtungsverträge). Diese gemäßigte Position, die auf eine demokratische Entwicklung in Deutschland ohne "Hohenzollern und Junker" hoffte, wurde allerdings nicht von allen Referenten geteilt (17). Und außerhalb dieser relativ liberalen Gelehrtenrunde dominierte erst recht die aggressive Propaganda der Annektierer: "Kein dauerhafter Frieden ohne Rheingrenze", lautete z.B. der Titel einer Broschüre des Napoleon-Historikers Edouard Driault, der das einflussreiche "Komitee für das linke Rheinufer" leitete (18).

Der Frankfurter Friede 1871
Xylographie aus der Leipziger Illustrierten Zeitung vom 3. Januar 1871.

Der Frankfurter Friede, der am 10. Mai 1871 im Hotel "Zum Schwan" zwischen Bismarck und dem französischen Außenminister Jules Favre geschlossen wird, beendet den deutsch-französischen Krieg. Bismarck verleiht der Hoffnung Ausdruck, daß der Friede in Frankfurt auch ein Friede mit Frankfurt sein werde. Oberbürgermeister Johann Heinrich Daniel Mumm startet ein großzügiges Modernisierungsprogramm mit vielen repräsentativen Bauten.

Internet-Quelle: stadtgeschichte-ffm.de/service/chronik/chronik_05_1.htm (17.06.2003)

Mit dem Sieg von 1918 schien dann alles möglich: Elsass und Lothringen kehrten zu Frankreich zurück, die im Frankfurter Frieden von 1871 modifizierte Saar-Grenze wurde korrigiert und das französische Sicherheitsinteresse konnte auch eine besondere Politik gegenüber den Rheinlanden erzwingen - allerdings, zur großen Enttäuschung der Maximalisten, nur in Form einer Entmilitarisierung und zeitweiligen Besetzung und nicht etwa in Form einer definitiven Aufhebung der preußischen Zugehörigkeit dieser Territorien. Nun begann der Besatzungsalltag, die bewaffnete Präsenz allmächtiger und feindseliger Sieger, die sich nur ganz allmählich und auf Weisung von oben um eine konstruktive Perspektive bemühten. Dieses politische Dekor ist hinreichend bekannt, so dass es hier nicht im einzelnen referiert werden muss (19). Aber es bildet natürlich den emotionalen Hintergrund für die historiographischen Kontroversen, von denen jetzt die Rede sein soll, und es ist wichtig sich daran zu erinnern: Auch die angeblich weltfremden Hochschullehrer in ihren Studierstuben haben die Schrecken des Krieges, der Niederlage und der Besatzung mit eigenen Augen gesehen und manchmal auch selbst am eigenen Leib erfahren. Allerdings trifft dies natürlich ebenso für die französische Seite zu! Zwar lässt sich damit kein Fanatismus rechtfertigen, aber manche Übertreibung ist in diesem Kontext vielleicht etwas milder zu interpretieren.

___________________

Anmerkungen

  1. Vgl. zum folgenden ausführlicher: Peter Schöttler, Geschichtsschreibung in einer Trümmerwelt. Reaktionen französischer Historiker auf die deutsche Historiographie während und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Peter Schöttler, Patrice Veit, Michael Werner (Hg.), Plurales Deutschland - Allemagne plurielle. Festschrift für Etienne François - Mélanges Etienne François, Göttingen 1999, S. 296-313. 
  2. Vgl. Charles-Olivier Carbonnel, Histoire et historiens. Une mutation idéologique des historiens français 1865-1885, Toulouse 1976, S. 505 ff.; Beate Gödde-Baumanns, La France et l'Allemagne: l'éclosion d'une historiographie et ses échos, in: Storia di Storiographia, 12 (1987), S. 72-88.
  3. Vgl. Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969; Jürgen und Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf "An die Kulturwelt!". Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996.
  4. Revue historique 117 (1914), S. 2. Vgl. dazu: Michel Martin, Histoire et actualité. La "Revue historique" pendant la première guerre mondiale, in: Revue historique, 205 (1976), S. 433-468.
  5. Emile Durkheim, "L'Allemagne au-dessus de tout". La mentalité allemande et la guerre, Paris 1991 (zuerst: 1915) ; dt. Übers. in: ders., Über Deutschland. Texte aus den Jahren 1887 bis 1915, hg. v. Franz Schultheis, Andreas Gipper, Konstanz 1995, S. 245-290.
  6. Henri Hauser, Comment la France jugeait l'Allemagne. Histoire d'une illusion d'optique, o.O. o.D. (Paris 1915).
  7. Vgl. dazu die materialreiche Magisterarbeit von Jacques Fernique, L'histoire au combat. Les historiens français pendant la Grande Guerre, mémoire de maitrise, Universität Straßburg II, 1985 (ungedruckt). 
  8. Vgl. Daniel Nordmann: Frontières de France. De l'espace au territoire, XVIe-XIXe siècle, Paris 1998, sowie Peter Sahlins, Natural Frontiers Revisited: France's Boundaries since the Seventeenth Century, in: American Historical Review, 95 (1990), S. 1423-1451. 
  9. Vgl. Heinz-Gerhard Haupt, Bourgeoisie und Rheingrenze im Frankreich der Restaurationszeit, 1815-1830, in: Geschichte und Gesellschaft, 3 (1977), S. 5-30.
  10. Eine genaue Analyse dieser "Wechselwirkung" hat jetzt Michael Jeismann vorgelegt: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992. Zur älteren Diskussion vgl. Dieter Stollwerck, Das Problem der Rheingrenze unter besonderer Berücksichtigung Ludwigs XIV., phil. Diss., München 1972. Den Bogen zur Gegenwart schlägt: Utz Jeggle, Trennen und Verbinden. Warum ist es am Grunde des Rheins so schön?, in: SOWI - Sozialwissenschaftliche Informationen, 20 (1991), S. 179-185.
  11. Vgl. Pierre Miquel, La paix de Versailles et l'opinion publique française, Paris 1972, S. 281-418; Werner Kern, Die Rheintheorie in der historisch-politischen Literatur Frankreichs im Ersten Weltkrieg, phil. Diss., Saarbrücken 1973.
  12. Vgl. Georges Soutou, La France et les Marches de l'Est 1914-1919, in: Revue historique, 260 (1978), S. 341-388.
  13. Camille Jullian, Le Rhin gaulois, Paris o.D. (1915), S. 5-6.
  14. Ebenda, S. 8.
  15. Travaux du Comité d'études, Bd.I: L'Alsace-Lorraine et la frontière du Nord-Est, Paris 1918; Bd. II: Questions européennes, Paris 1919. Zur Geschichte des Komitees siehe: Taline Ter Minassian, "Les géographes français et la délimitation des frontières balkaniques à la Conférence de la Paix en 1919 " , Revue d'histoire moderne et contemporaine, 1997, S. 252-286, bes. S. 271 ff.
  16. Ebenda, Bd. I, S. 448 f.
  17. Ebenda, S. 452. Immerhin stimmte der Vorsitzende des Komitees, Ernest Lavisse, Seignobos ausdrücklich zu.
  18. Pas de paix durable sans la barrière du Rhin, Paris 1917. Zu Driault vgl. Kern, Rheintheorie (wie Anm. 11), S. 275 ff. 
  19. Vgl. Problèmes de la Rhénanie 1919-1930. Actes du Colloque d'Otzenhausen 14-16 octobre 1974, Metz, 1975; Franziska Wein, Deutschlands Strom - Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919-1930, Essen 1992. Zur Besatzungspolitik selbst vgl. die Fallstudie von Martin Süss, Rheinhessen unter französischer Besatzung. Vom Waffenstillstand im November 1918 bis zum Ende der Separatistenunruhen im Februar 1924, Stuttgart 1988. Eine kritische Alltagsgeschichte der besetzten Rheinlande fehlt bisher.