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'Motive transnationaler Mobilität'
 
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Motive transnationaler Mobilität

Die Motive, sich aus dem gewohnten Lebens-, Sprach- und Kulturraum herauszubegeben und zeitweilig oder dauerhaft als Franzose nach Deutschland oder als Deutscher nach Frankreich zu gehen, ändern sich über die Jahrhunderte gemäß der sozioökonomischen und politischen Entwicklung. Die Ursachen für diese Mobilität lassen sich über diesen je spezifischen historischen Kontext hinaus in der Regel den Motivkomplexen des Bildungs-, Erwerbs- oder Zufluchtsstrebens zuordnen.

Abbildung 2:

Die Kavalierstour gehörte zu den Privilegien der höheren Gesellschaft, wie das Beispiel des adeligen Studenten Wolff von Brösicke zeigt. Er besucht zunächst die "Particularschule" in Berlin. Zwischen 1575 und 1578 wird er in Lehnin von einem Hauslehrer erzogen. Anschließend besucht er die Fürstenschule in Meißen, um 1581 die Universität Straßburg zu beziehen. Von dort wechselt er 1583 an die Universität Basel und 1584 bis 1586 nach Genf und Lyon. 1586 bereist von Brösicke Italien mit den Zentren Neapel, Rom und Venedig. Ab 1590 setzt er seine Studien in Leipzig fort, um im Sommer 1592 die Städte in "Holland und Seeland" zu bereisen. Danach begibt er sich nach London und Oxford. Über Schottland, Irland und "andere orten Länder mehr" kehrt er zu Michaelis (29. September) 1594 nach Lehnin zurück.

 

Internet-Quelle (personalschriften.de)

Das Bildungs- und Erwerbsstreben konstituierte im 18. und 19. Jh. in stärkerem Maße eine Einheit als dies im 20. Jh. der Fall war. Das wird deutlich, wenn man sich zwei über Generationen hin praktizierte Formen zivilgesellschaftlicher Begegnung zwischen Deutschen und Franzosen genauer ansieht: Die "Kavalierstour [1] " und die peregrinatio academica, die bis in die erste Hälfte des 19. Jh. befolgt wurden. Die frühneuzeitliche Kavalierstour führte junge Aristokraten in das Ursprungsland absolutistischer Prachtentfaltung der "höfischen Gesellschaft" und diente gleichermaßen dem Erlernen höfischer Repräsentations- und administrativer Herrschaftstechniken. In Deutschland fehlte ein mit Paris vergleichbarer Hauptstadtmagnet; dort boten jedoch die zahlreichen mittleren und kleinen Residenzen für französische Adepten der höfischen Etikette eine Möglichkeit gewinnbringender Betätigung.

Die im Vergleich zur Kavalierstour ältere gesellschaftliche Verkehrsform zwischen beiden Ländern, die peregrinatio academica, führte Studenten zeitweilig an eine Universität des Nachbarlandes und diente ebenso dem Wissenserwerb wie der Sprach- und Landeskenntnis. Wenn auch in diesem Bereich seit dem 18. Jh. die Mobilität von Deutschland nach Frankreich größer war als umgekehrt (und aufgrund des einzigartigen in Paris angehäuften kulturellen Kapitals auch blieb), so ist im 19. Jh. doch auch eine fortschreitende Beweglichkeit von Frankreich nach Deutschland feststellbar, die insbesondere nach dem Krieg von 1870/71 starke Impulse erhielt. Hier spielte die Vorstellung eine Rolle, dass die französische Kriegsniederlage wesentlich durch die bessere Leistungsfähigkeit der (in den Humboldtschen Reformen erneuerten) deutschen Universitäten bedingt gewesen sei und dass man in diesem Bereich vom Gegner lernen könne, wie durch Reformanstrengungen eine Krise zu überwinden sei (Art. 93). Eine wichtige Funktion im geistigen Austausch hatten über lange Zeit die wissenschaftlichen Akademien. Diese "gelehrten Sozietäten [2] " und wissenschaftlichen Akademien entstanden vor allem im 18. Jh. und waren dem Aufklärungs-, später im 19. Jh. dem Fortschrittsgedanken verbunden. Sie waren prinzipiell transnational angelegt und kooptierten ihre ausländischen Mitglieder gemäß deren Reputation. Wie viele andere Formen der spontanen und individuellen zivilgesellschaftlichen Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich brachen diese Beziehungen im Ersten Weltkrieg zusammen.

Abbildung 3/4:

Die Physiognomie der deutschen Handwerker in Paris:
oben Schneider, unten Schuster

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: Deutsche Emigranten in Frankreich, Französische Emigranten in Deutschland 1685-1945. Eine Ausstellung des französischen Außenministeriums in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut, Paris 1983, S.89.

Internet-Quelle [3]

Eine ähnlich langfristige und lebendige Austauschbeziehung zwischen der Gesellschaft beider Länder vom Absolutismus bis zum Ersten Weltkrieg existierte in dem Interaktionsbereich, der vorwiegend vom Erwerbsstreben bestimmt wurde. Die von diesem Motiv in Bewegung gesetzten Vertreter der Handwerks- und Handelsberufe bildeten in den Städten des anderen Landes - insbesondere, wenn sie dort erfolgreich waren - nicht allein Ansatzpunkte nationaler Koloniegründung, sondern auch Anlaufstellen für durchreisende Landsleute. Neben prominenten Repräsentanten hochspezialisierter Handwerksberufe (Drucker, Kunsttischler u. a.) und des Handels (nicht nur in Paris, sondern auch z. B. in Bordeaux) gehören in diese Kategorie auch die zahlreichen nicht selbständigen Handwerksgesellen, die allein in Paris in den 40er Jahren des 19. Jh. nach Tausenden zählten. Die ständig oder vorübergehend im Aufnahmeland verweilenden Handwerker und Händler waren besonders im 19. Jh. die Initiatoren für die Gründung nationalkultureller Inseln am Ort ihres Wirkens. Diese "Kolonien", deren Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen bislang selten selbständig thematisiert wurden, dienten dazu, die lokalen Gruppenbeziehungen und die Beziehungen zum Herkunftsland lebendig zu erhalten. Dergleichen "Kolonien" entfalteten in der Regel ein eigenes kulturelles und geselliges Leben. Sie brachten zeitweilig eigene kirchliche Institutionen, Lesekabinette bzw. Büchereien, Zeitungen und Selbsthilfeeinrichtungen hervor. Im Übergang vom 19. zum 20. Jh. waren diese Kolonien dem erhöhten Assimilationszwang ausgesetzt, der durch den integralen bzw. völkischen Nationalismus erzeugt wurde, und sie gingen im Ersten Weltkrieg unter.

Abbildung 5:

 

Das Grab Heinrich Heines auf dem Cimetière de Montmartre in Paris

 

 

 

 

 

 

 

Internet-Quelle

In den französischen Subkulturen in Deutschland und den deutschen "Kolonien" in Frankreich fanden sich auch meist die Opfer religiöser oder politischer Verfolgung ein, die seit der Aufhebung des Edikts von Nantes [4] 1685 und der Französischen Revolution von 1789 in wiederholten großen Schüben im Nachbarland Zuflucht suchten. In diesen Exilbewegungen traten im 19. Jh. insbesondere die Repräsentanten intellektueller Berufe (Schriftsteller, Journalisten) in den Vordergrund, deren Emblemgestalt Heinrich Heine [5] wurde. Die großen politischen Bewegungen des 19. Jh., die sich die Schaffung der liberalen oder der sozialen Demokratie zum Ziel setzten, förderten die Entstehung verdichteter Kommunikation über die nationalen Grenzen hinweg. Der verdichtete personelle und ideelle Austausch zwischen Deutschland und Frankreich, der durch diese politischen Bewegungen ermöglicht wurde, stieß jedoch auf strukturelle Grenzen, die von der politisch-kulturellen Eigenart eines jeden der beiden Länder gesetzt wurden. Die bürgerlich-liberale Friedensbewegung, die sich in beiden Nationen seit dem ausgehenden 19. Jh. im Zeichen der regulativen Ideen der Völkerrechts-Kodifizierung und der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit konstituierte, ist ein Beispiel dafür. Ein anderes Beispiel ist die Sozialistische Internationale [6] , die zwischen 1889 und dem Ersten Weltkrieg an den strukturellen Unterschieden der sozialistischen Bewegung in beiden Ländern und unter dem wachsenden Druck der imperialistischen Konkurrenz derselben scheiterte.