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Hintergründe

Die hohen politisch-mentalen Dispositionen Westmittelfrankens und der Corrèze für den Nationalsozialismus bzw. die Volksfront waren jeweils in der ”langen Dauer” von lutherischer Reformation bzw. französischer Revolution auf der Basis unterschiedlicher religiöser Signaturen herangereift. Während die meist zu 90 Prozent protestantischen Bezirksämter Westmittelfrankens im Ergebnis einer gegenaufklärerischen Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert zu einer Bastion lutherisch-orthodoxer Kirchenfrömmigkeit in Deutschland wurden, entwickelte sich die (nördliche und mittlere) Corrèze im gleichen Zeitraum zu einer der am stärksten entkirchlichten Regionen im laizistischen Gürtel Süd- und Mittelfrankreichs. Da das feudalistische Kondominium von ”Gutshof und Pfarrhof” (A. Siegfried) hier stets eine untergeordnete Rolle gespielt und der katholische Klerus in geringerem Ansehen gestanden hatte, konnte sich infolge der revolutionären Kirchenpolitik nach 1789 und dann verstärkt nach Gründung der Dritten Republik [1] seit den 1870er Jahren eine besonders antiklerikal-linksrepublikanische Tradition herausbilden, die im Rahmen eines grundlegend reformierten Schulsystems vor allem von den Volksschullehrern breitenwirksam aufgebaut wurde. Die Langsamkeit des nationalen Industrialisierungsprozesses erleichterte es der Republik zudem, durch konsequenten Agrarprotektionismus Akzeptanz auch in breiten bäuerlichen Schichten zu finden.

Abbildung 3:

Die Diözesen Frankreichs. Das Département Corrèze ist Teil der Diözese von Tulle in der Region Limousin.

 

 

 

 

Internet-Quelle [2]

Das in der napoleonischen Ära 1806 widerwillig zum katholisch geprägten Bayern geschlagene und aus neokonfessionalistischen und nationalpolitischen Motiven im Vormärz [3] liberal gewordene Westmittelfranken begann dagegen während des Kulturkampfs der 1870er Jahre, in einer doppelten, stark von der erweckten lutherisch-orthodoxen Pfarrerschaft ausgehenden Wendung gegen liberale (Simultan-)Schulpolitik* und bayerischen ”Ultramontanismus”, sich zunehmend deutschkonservativ zu orientieren; die Große Depression in der Landwirtschaft und der agrarkonservative Protest gegen die Handelspolitik Reichskanzler Caprivis [4] , welche sich stärker an den Interessen der stürmisch wachsenden deutschen Industrie ausrichtete, verstärkten die Abwendung vom Liberalismus, zunächst in bäuerlichen, dann auch in kleinstädtisch-mittelständischen Schichten in den 1890er Jahren entscheidend.

Eine wichtige Rolle spielte dabei der sowohl ”lutherisch-christlich” wie agrarökonomisch motivierte Antisemitismus, der in einer Aversion gegen die zahlreichen jüdischen Landhändler wurzelte und den engen Verbindungen von Judentum und Liberalismus voller Argwohn begegnete. Die ursprünglich von ”linken” Liberalen besetzte Idee des Nationalismus wurde im Zuge dieses historischen Prozesses gerade in Westmittelfranken von rechtskonservativer Seite übernommen. Hierzu trug wesentlich bei, dass sich der deutsche Protestantismus nach der Gründung des gleichsam preußisch-evangelischen Hohenzollernreiches 1871 zunehmend mit der Nation identifizierte und in monarchischer Gesinnung auf die Einheit von Thron und Altar ausrichtete. Aus dem konfessionalistisch-lutherischen Mentalitätskern kristallisierte sich so die von einflussreichen konservativen Pfarrern und Bauernführern vermittelte regionale Milieumentalität des ”Nationalprotestantismus” heraus, in der liberal-demokratisch-republikanische Werte einen geringen Stellenwert einnahmen.

Abbildung 4:

Jüdische Viehhändler aus der Sicht Marc Chagalls. Oft waren die jüdischen Landhändler der Grund für einen "agrarökonomisch" motivierten Antisemitismus. Dies traf auch auf Teile Frankens, nicht aber auf die antiklerikal orientierte Corrèze zu. 

Internet-Quelle [5]

Die sich im gleichen Zeitraum in der antiklerikal orientierten Corrèze bildende Milieumentalität des ”republikanischen Laizismus” gab dagegen der Epochenströmung des Nationalismus eine republikanisch-universalistische Form und kannte – schon in Ermangelung eines ökonomisch irgendwie bedeutsamen Landjudentums – auch kaum Antisemitismus. Nach dem Sieg der linksrepublikanischen Anhänger des jüdischen Hauptmanns Dreyfus [6] gegen die monarchisch-klerikale Reaktion und der darauf folgenden Trennung von Staat und Kirche wurden vielmehr weite Teile Frankreichs Anfang des 20. Jahrhunderts vollends vom Phänomen des ”Sinistrismus” erfasst, d. h. einer auf dem Mythos von 1789 gründenden kulturellen Hegemonie linker ”revolutionärer” Strömungen, welche für die Corrèze besonders charakteristisch wurde und sich sowohl in der Wahlkampfrhetorik als auch parteipolitisch im Aufschwung des liberalen Radikalsozialismus verfestigte: 1914 bewarben sich im Departement ausschließlich Radicaux (Parti Républicain Radical et Radicalsocialiste = PRS) oder solche, die sich dafür ausgaben, um ein Parlamentsmandat, während selbst die ”gemäßigten” laizistischen Konservativen notorisch unter Klerikalismusverdacht standen und erfolglos blieben. Im nationalprotestantischen Westmittelfranken dagegen war auch der Liberalismus unter dem Eindruck der konservativen Attacken besonders um ein rechtes, ”nationales” Profil bemüht.