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Zur Aufnahme der Hugenotten: Die erste Generation der "réfugiés" zwischen Ablehnung und Anerkennung

Nach Brandenburg-Preußen, das im folgenden beispielhaft untersucht werden soll, waren die reformierten französischen Flüchtlinge oder "réfugiés" durch das Edikt von Potsdam [1] des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm eingeladen worden.

Abbildung 2:
Radierung von Daniel Chodowiecki
Der Empfang der Réfugiés durch den Großen Kurfürsten, Frontispiz für Jean-Pierre Erman / Frédéric Reclam, Mémoire pour servir à l'Histoire des Réfugiés françois dans les États du Roi, Bd. 1, Berlin 1782.


Quelle: Ursula Fuhrich-Grubert / Jochen Desel (Hg.): Daniel Chodowiecki (1726-1801). Ein hugenottischer Künstler und Menschenfreund in Berlin. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung (= Geschichtsblätter der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft, 34), Bad Karlshafen 2001, S. 91.

In dem Edikt, das hier exemplarisch für ähnliche Privilegien anderer Herrscher im "Alten Reich" steht, wurde den Immigranten Glaubensfreiheit und Ausübung des ihnen geläufigen Kultus in französischer Sprache mit eigenen Geistlichen zugesagt. Ferner erhielten sie eine Reihe wirtschaftlicher Zugeständnisse wie zeitweilige Steuerbefreiung, kostenlose Zunftmitgliedschaft und Verleihung des Bürgerrechts sowie materielle Unterstützung bei der Niederlassung. Sodann legte das Edikt das Fundament für ein besonderes Rechtsprechungsverfahren der Franzosen in Brandenburg-Preußen. Diese Maßnahmen begründete der Kurfürst im Edikt von Potsdam selbst mit Mitleid mit seinen reformierten Glaubensgenossen: Seit Beginn des 16. Jahrhunderts waren die Kurfürsten von Brandenburg reformiert, während der größte Teil der Einwohner des Landes Lutheraner blieb. Der Wunsch nach Bevölkerungszuwachs und Wirtschaftswachstum sowie die Hoffnung auf wirtschaftliche Neuerungen waren allerdings von mindestens genauso großer Bedeutung wie die angeführte gemeinsame Konfession von Flüchtlingen und Kurfürsten.

Ausgestattet mit erheblichen Privilegien und begleitet von den Wünschen und Hoffnungen der Obrigkeit siedelten sich die französischen Migranten in den deutschen Territorien an. In Brandenburg-Preußen als dem deutschen Hauptaufnahmeland wandten sie sich außer nach Berlin als dem "Hauptort" ihrer Niederlassung [2] vor allem in solche Orte, die in einem Umkreis von 150 km um diese Stadt herum zu finden waren. Da die deutschen Territorien trotz aller Privilegien als neue Heimat für die "réfugiés" bei weitem nicht so attraktiv wie England oder die Niederlande war, kamen eher Ärmere und sozial Schwächere hierher. So sahen sich die Einwohner vieler deutscher Städte und Dörfer einem Zug von Flüchtlingen gegenüber, die oft abgerissen und mittellos waren und deshalb häufig einer Unterstützung bedurften. In Berlin bemühte sich die seit 1672 existierende Französische Kirche, die Not zu lindern, allerdings überstieg dies völlig ihre Kräfte. Hilfe von außen war dringend nötig. Wie reagierten nun die einheimischen Deutschen, hier beispielhaft die Berliner in dieser Situation:
Eine Anekdote, die noch einhundert Jahre später in Brandenburg kursierte, gibt einen Eindruck: Lassen wir Jean Pierre Erman, einen der beiden Historiographen der ersten einhundert Jahre des so genannten "refuge", der hugenottischen Einwanderung, in Brandenburg-Preußen, zu Worte kommen. Er berichtete: Im Hof des Berliner Stadtschlosses hielten die Küchenjungen einen zahmen Storch, für den sie aus der Spree Frösche fingen. (Anm. 1) Auch der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm hatte seinen Spaß an dem Tier. Eines Tages trug der Storch eine für den Kurfürsten bestimmte Bittschrift im Schnabel. In ihr beklagte sich das Tier bitter. Auch ihn würden die eingewanderten Franzosen schädigen. Bisher sei er allein im friedlichen Besitz der Frösche, der Padden, gewesen, jetzt aber würden sie ihm von den Franzosen, den Paddenschluckern, den "Fröschefressern" weggefressen.

Von Mitleid mit den zugewanderten Fremden findet sich in dieser kleinen Geschichte keine Spur. Vielmehr zeigt sich in ihr die erhebliche Ablehnung der Neuankömmlinge durch die Einheimischen. Der Storch - und er dürfte hier als Synonym für die menschlichen Verfasser der Bittschrift stehen - hat Sorge, zu verhungern, wird ihm doch mit den Fröschen seine Nahrungsgrundlage von den Zuwanderern streitig gemacht. Im übertragenen Sinne wurde damit die Sorge um die Einschränkung der Existenzgrundlage ausgedrückt: Fürchteten doch nicht wenige Berliner Handwerker, dass mit den Neuankömmlingen die Arbeit, in der Sprache der Zeit die "Nahrung", in geringerem Maße als bisher für sie zur Verfügung stünde. Zugleich deutet sich in der Anekdote ein klares Unverständnis gegenüber einer fremden Kultur, hier der französischen Esskultur an. Wer in Berlin oder Brandenburg-Preußen aß im 17. Jahrhundert schon Frösche?

Die Bittschrift richtete sich an den Kurfürsten als höchste obrigkeitliche Instanz, wie in einem vom beginnenden Absolutismus geprägten Staat nicht anders zu erwarten war, zumal die Einladung an die "réfugiés" vom Kurfürsten ausgegangen war. Leider ist nicht überliefert, wie sich der Bittsteller, unser Storch, die Lösung seiner Probleme vorstellte.
Wie auch immer, die kurfürstliche Politik änderte sich nicht. Im Gegenteil: Weil die Spendenbereitschaft der brandenburg-preußischen Bevölkerung zu wünschen übrig ließ, befahl Kurfürst Friedrich Wilhelm am 22. Januar 1686 eine Zwangskollekte. Sie half zwar die Not zu lindern, nicht aber das Verhältnis zwischen Neuankömmlingen und Einheimischen zu verbessern, auch wenn der Kurfürst in der zugehörigen Instruktion unterstrich, dass er keine regelmäßige Abgabe zwecks Unterstützung der Hugenotten zu erheben gedenke. Dazu passt, dass in der Forschung kein Fall bekannt ist, in dem eine deutsche Zunft einen französischen Meister ohne Probleme, hier: ohne Zahlung einer hohen Gebühr aufnahm, obwohl den Franzosen im Edikt von Potsdam eine kostenlose Aufnahme garantiert worden war. Hier werden die Grenzen der herrschaftlichen Macht in einem absolutistischen Staat der Frühen Neuzeit deutlich. Selbst Schutz konnte der Kurfürst den Neuankömmlingen nur begrenzt bieten, so sind Fälle bekannt, in denen Feuer bei den "réfugiés" gelegt wurde oder Steine durch ihre Fenster flogen.
In einer solch ablehnenden Umwelt schlossen sich die Neuankömmlinge eng zusammen, zumal die Hoffnung auf Rückkehr nach Frankreich noch bis zum Ende der Pfälzischen Kriege 1697 bzw. des Spanischen Erbfolgekrieges [3] 1713/14 groß war. Daher schien auch wenig Grund vorhanden, sich außerhalb der eigenen Gruppe in Richtung der einheimischen Bevölkerung zu orientieren. Zudem stellten die "réfugiés" zunächst keine in sich geschlossene, homogene Gruppe dar. Langsam jedoch - auch durch den äußeren Druck - verschmolz diese heterogene Gruppe der "réfugiés", deren Angehörige aus zwei politisch, kulturell, sprachlich und sozioökonomisch sehr unterschiedlichen Regionen Frankreichs stammten: den landwirtschaftlich geprägten "pays de droit" im Süden und den städtisch-protoindustriell bestimmten "pays de coutûme" im Norden des Landes. Daraus resultierten zwei deutlich voneinander abgrenzbare Existenzformen, die von den "réfugiés" zunächst in ihr Aufnahmeland transferiert worden waren.

Neben dem bereits genannten äußeren Homogenisierungsdruck trugen zwei weitere Faktoren zur Überwindung der regionalen Divergenzen unter den "réfugiés" bei: die gemeinsame sprachliche Basis des Hochfranzösischen und die gemeinsame reformierte Konfession [4] . Sowohl Sprache wie Konfession bewirkten außer einer inneren Konsolidierung der Immigrantengruppe auch eine Steigerung ihrer Wertschätzung bei einem Teil des Adels und der intellektuellen Eliten Brandenburg-Preußens. Französisch hatte sich im 16. Jahrhundert gegenüber dem Lateinischen zunehmend als Diplomaten- und Gelehrtensprache durchgesetzt; dessen Beherrschung galt um die Wende des 18. Jahrhunderts als Ausdruck zivilisierter Lebensart. Die sprachliche Teilhabe an der französisch geprägten Hochkultur der gesellschaftlichen Eliten Europas verschaffte den "réfugiés" auf diese Art das Renommee einer positiv bewerteten kulturellen Avantgarde. Zugleich profitierten die Neuankömmlingen von der Qualifizierung ihrer Konfession als eine von der lutherischen "Volkskonfession" abgehobenen höfischen Elitekonfession, die als Konfession des kurfürstlichen Hauses durch reformierte Hofprediger im ganzen Lande propagiert wurde.

Die erste Generation der sich langsam zu einer homogenen Gruppe entwickelnden "réfugiés" sah sich also mit zwei ganz unterschiedlichen Verhaltensmustern der einheimischen Bevölkerung konfrontiert. Während der Herrscher und Teile der adligen und intellektuellen Elite des Landes die Einwanderer als Bereicherung empfanden und behandelten, schlug ihnen von Seiten der übrigen Bevölkerung heftige Ablehnung entgegen. Gerade die französische Sprache und Kultur, aber auch die reformierte Konfession, die den Hugenotten ihren positiven Status am Hof und unter den Gelehrten verlieh, führte bei den "einfachen" lutherischen Bewohnern Brandenburg-Preußens zu ausgrenzendem Verhalten gegenüber den Migranten.
Hier stellt sich nun die Frage nach deren Reaktion auf dieses höchst unterschiedliche, teils freundlich-entgegenkommende teils aggressiv-ablehnende Benehmen ihrer neuen Umgebung. Der Umgang mit Konflikten wird bekanntlich immer dann besonders deutlich, wenn die Konfliktparteien in direkten Kontakt miteinander treten. Im Falle der "réfugiés" und ihrer deutschsprachigen Nachbarn ist ein solcher Kontakt für den Kirchenbesuch überliefert. Musste sich doch die französisch-reformierte Kirchengemeinde in Berlin mehrere Kirchen mit deutschen lutherischen und deutschen reformierten Gemeinden teilen. Im Protokollbuch der französisch-reformierten Gemeindeleitung, des "consistoire", ist im August 1688 nachzulesen, "dass die Franzosen in einem Haufen in die Kirche hineingeströmt seien, ohne zu warten, dass die Herren Deutschen noch ganz hinausgehen mussten, was ein großes Durcheinander und einen großen Skandal hervorrief." (Anm. 2)

Dass ein solch voreiliges Betreten der Kirche von Seiten der Einheimischen als eine Provokation empfunden wurde, die nicht dazu angetan war, das gestörte Verhältnis zwischen ihnen und den Zuwanderern zu verbessern, muss nicht näher ausgeführt werden. Zudem wiederholte sich das Verhalten in den nächsten Jahren ständig. Weder durch Androhung einer Geldstrafe von Seiten der weltlichen Obrigkeit noch durch Androhung des Ausschlusses vom Abendmahl als Kirchenstrafe von Seiten der kirchlichen Obrigkeit ließen sich "le troupeau", das heißt die französisch-reformierten Gemeindeglieder, von ihrem Tun abbringen. (Anm. 3) Das rücksichtslose Eindringen in den von den ursprünglichen Kirchenbesitzern, den lutherischen und reformierten Deutschen besetzten Kirchenraum scheint also für die von außen kommenden, reformierten Franzosen von großer Bedeutung gewesen zu sein. Sonst hätten die angedrohten Strafen sicher bald Wirkung gezeigt. Die vorzeitige Vereinnahmung des Kirchenraumes durch die Immigranten lässt sich daher symbolisch als Ausdruck für ihren Anspruch auf die neue Heimat und zugleich als Aneignung eben dieser neuen Heimat interpretieren. Und ein solcher Anspruch und eine solche Aneignung ließ sich gerade in der beschriebenen Situation mit Hilfe geballter physischer Präsenz gut durchsetzen, denn die "réfugiés" dürften beim Kirchenbesuch nicht wie im alltäglichen Leben sonst in der Minderzahl, sondern in gleicher Anzahl wie die Einheimischen gewesen sein.

Wie schon erwähnt, waren die weltliche und kirchliche Obrigkeit mit dem Verhalten der Gemeindeglieder nicht einverstanden. Dem Kurfürsten ging es um das Durchsetzen bzw. den Erhalt der von ihm gesetzten Ordnung, also um "Disziplinierung" seiner Untertanen, speziell um deren friedliche Koexistenz, denn alles andere störte den geplanten Landesausbau. Der französisch-reformierten Gemeindeleitung wiederum war daran gelegen, das positive Bild des Kurfürsten und der Eliten des Landes über die "réfugiés" nicht negativ einfärben zu lassen. War man sich im "consistoire" doch bewusst, dass ohne Unterstützung der Obrigkeit an ein Verweilen der "réfugiés" in Brandenburg-Preußen kaum zu denken war: Friedrich Wilhelm hatte die Hugenotten nicht nur eingeladen und angesiedelt, sondern sie auch gegen tätliche Angriffe durch die Einheimischen zu schützen gewusst.

Um sich der so wichtigen Gunst des Kurfürsten zu vergewissern, schien es der hugenottischen Elite daher unabdingbar, sich uneingeschränkt zu ihm zu bekennen. So publizierte Charles Ancillon, "réfugié" aus Metz und Gründungsdirektor des bis heute existierenden Französischen Gymnasiums in Berlin, 1690 eine Geschichte der Niederlassung der französischen Flüchtlinge in Brandenburg-Preußen, in der die Verehrung des Kurfürsten offen vergötternde Züge trug (Anm. 4).  (Abbildung 3) In dem uneingeschränkten Bekenntnis zum Großen Kurfürsten, welches das Buch beherrschte, wird die Tradition einer religiös überhöhten Treue zur weltlichen Obrigkeit deutlich - eine Tradition, welche die "réfugiés" aus Frankreich mitgebracht hatten. Ganz ähnlich hatten hugenottische Gelehrte vor 1685 versucht, Ludwig XIV. davon zu überzeugen, dass sie - obwohl Protestanten - loyale Untertanen ihres Königs seien. Mochte in den unteren Schichten der französischen Einwanderer zunächst noch Widerstandsgeist zu spüren gewesen sein, so setzte sich letztlich auch dort allmählich die Erkenntnis durch, dass nur ein loyales Verhalten gegenüber der weltlichen Obrigkeit als erfolgreiche Überlebensstrategie in der neuen Heimat in Frage käme.

Abbildung 3:
Titelblatt von Charles Ancillon
Histoire de l'établissement des François réfugiez dans les Etats de Son Altesse Electorale de Brandebourg, Berlin 1690.

 

Quelle : aus Charles Ancillon: Geschichte der Niederlassung der Réfugiés in den Staaten Seiner Kurfürstlichen Hoheit von Brandenburg (= Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins, 15/8), Berlin 1939, [S. 5].

Mit Hilfe besagter Obrigkeit wurde in den Jahrzehnten bis 1720 denn auch ein spezifischer Sonderstatus der französischen Niederlassungen, der Französischen Kolonien in Brandenburg-Preußen festgeschrieben. Sie wurden mit einer eigenen Administration ausgestattet, an deren Spitze ein sogenannter "chef de la nation" und darunter ein Französisches Oberdirektorium stand. Sodann gab es ein eigenes Gerichtswesen mit drei Instanzen, in dem französisches Recht gesprochen wurde. Genauso wie diese Behörden war die oberste Kirchenbehörde der französisch-reformierten Gemeinden Brandenburg-Preußens in Berlin angesiedelt, das französische Oberconsistorium oder "consisitoire supérieure". Es nahm die Stelle der eigentlich laut "discipline ecclésiatique des églises réformées de France", also laut französisch-reformierter Kirchenordnung [5] vorgeschriebenen Nationalsynode ein. An der Spitze der Französischen Kirche in Brandenburg-Preußen standen die preußischen Herrscher als "summi episcopi" (oberste Bischöfe). Im Gemeindebereich existierte das schon mehrfach erwähnte "consistoire", ein aus Ältesten, Diakonen und Geistlichen zusammengesetztes Presbyterium, das für die Kirchenzucht und Gemeindeverwaltung zuständig war. Erwähnenswert ist schließlich noch ein engmaschiges Sozial- und Bildungsnetz in den Französischen Kolonien und Kirchen. Hintergrund des Netzes war die große Bedeutung, die der Diakonie und der Schule in der französisch-reformierten Kirchenordnung beigemessen wird.

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Anmerkungen

  1. Vgl. Jean Pierre Erman / Frédéric Reclam: Mémoire pour servir à l'Histoire des Réfugiés françois dans les États du Roi, Bd. 6, Berlin 1787, S. 143.
  2. Archiv der Französischen Kirche zu Berlin, Actes du Consisitoire, Bd. 1, Bl. 61r.
  3. Archiv der Französischen Kirche zu Berlin, Actes du Consisitoire, Bd. 1, Bl. 195v und Actes du Consisitoire, Bd. 2, Bl. 270v.
  4. Vgl hier die deutschsprachige Ausgabe: Charles Ancillon: Geschichte der Niederlassung der Réfugiés in den Staaten Seiner Kurfürstlichen Hoheit von Brandenburg (= Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins, 15/8), Berlin 1939, S. 9.