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'Migrationen über zwei Jahrhunderte: ein Überblick'
 
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Migrationen über zwei Jahrhunderte: ein Überblick

Im Vergleich zur vorrevolutionären Zeit entwickelten sich im 19. und 20. Jh. neue Wanderungsvorgänge in und nach Frankreich, in, nach und aus Deutschland und zwischen beiden Gesellschaften.

  • Seit den 1830er Jahren und bis zum Ende des Anti-Sozialistengesetzes in Deutschland gingen deutsche Revolutionäre und Gesellschaftskritiker ins Exil nach Frankreich; vom 1933 bis 1945 folgten ihnen jüdische und politische Verfolgte des Nazi-Regimes. Seit den 1830er Jahren kamen auch polnische und russische Revolutionäre ins Pariser Exil.

  • Deutsche Handwerker wanderten bis zum Ende des 19. Jh. nach Paris und z.T. in andere Städte Frankreichs.

  • Mit dem Krieg von 1870/71 kamen deutsche Truppen nach Frankreich, Elsass-Lothringen wurde bis 1918 Teil des Deutschen Reiches.

  • Während der beiden Weltkriege wurden Kriegsgefangene als Arbeitskräfte eingesetzt, freiwillige und Zwangsarbeitskräfte rekrutiert, Verwaltungs- und Polizeipersonal stationiert.

  • Mit der Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern seit den 1950er Jahren siedelten sich in kleinen Zahlen Franzosen in Deutschland und Deutsche in Frankreich an.

In beiden Ländern veränderten sich im Vergleich zum 18. Jh. innere und äußere Migrationen tiefgreifend. In Deutschland begann nach Ende der napoleonischen Kriege erneut die transatlantische Auswanderung (vgl. Tabelle 1), die bis zum Beginn der 1890er Jahre eine Massenbewegung war, danach bis in die Mitte der 1950er Jahre auf niedrigem Niveau andauerte. Seit den 1890er Jahren konnte die deutsche Industrie die aus der Landwirtschaft abwandernden überschüssigen Arbeitskräfte aufnehmen, nur nach den Zerstörungen der beiden Weltkriege und unter der damit verbundenen Hoffnungslosigkeit entschieden sich größere Zahlen von Frauen und Männern für die Auswanderung. Einige wählten Australien oder Südamerika als Ziel. Unterbrochen wurde die Auswanderung während der Kriegsjahre; unter der Nazi-Herrschaft handelte es sich um Fluchtwanderung. Im Gegensatz zu Deutschland blieb in Frankreich die Geburtenrate und damit das Abwanderungspotential niedrig.

Quelle: Green, 1985: 146

Mit der Besetzung von Algerien [1] als Kolonie 1830 begann eine zahlenmäßig sehr geringe Siedlerwanderung.  1848 folgte die Deportation missliebiger Männer und Frauen aus den Pariser Unterschichten, die ihrerseits meist als Zuwanderer/innen aus ländlichen Gebieten in die Großstadt gekommen waren. Viele von ihnen kamen während der schlecht vorbereiteten Aktion um. Auch der Erwerb des zweiten französischen Kolonialreiches seit Ende der 1870er Jahre bewegte nur wenige Menschen, sich in den Kolonien anzusiedeln, allerdings wuchs die Migration nach Algerien. (vgl. Tabellen 2, 3 und 4 [2] )

Die Eroberung Algiers 1830 (zeitgenössischer Stich)

 

 

 

 Quelle: www.arte-tv.com/de/geschichte-gesellschaft/geschichte-am-mittwoch/Programm/1104312.html

Da beide Länder im letzten Drittel des 19. Jh. einen intensiven Industrialisierungsprozess durchliefen, stieg der Bedarf an Arbeitskräften über das durch die Land-Stadt-Wanderung entstandene Reservoir an. Um 1900 waren mehr als die Hälfte (vgl. Tabelle 5 [3] ) der Einwohner/innen der größeren Städte Deutschlands Zuwanderer/innen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. begannen Italiener nach Frankreich und Deutschland zu wandern, zuerst besonders in die südlichen Regionen, dann auch in die großen Städte des Nordens. Seit den 1880er Jahren kamen polnische Arbeitskräfte [4] in zunehmender Zahl aus dem russischen Teilungsgebiet ins Deutsche Reich. Aus dem deutschen Teilungsgebiet wanderten etwa 450.000 Menschen polnischer und masurischer Ethnizität in das Ruhrgebiet.

Unter den Bedingungen wirtschaftlicher Stagnation in der Zwischenkriegszeit ab 1918 sank die Bedeutung der Arbeitsmigration [5] ; (vgl. Tabellen 6 und 7 [6] ) mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 kam sie fast völlig zum Stillstand. Allerdings begann in Frankreich in den 1920er Jahren und z.T. früher eine anfangs zahlenmäßig geringe Zuwanderung von Arbeitskräften aus den nord- und westafrikanischen Kolonien in die Hafenstädte, bes. nach Marseille. Mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau nach Ende des 2. Weltkrieges und dem Aufschwung der 1950er Jahre stieg der Bedarf für Arbeitskräfte in beiden Ländern und das europäische Süd-Nord-Migrationssystem entstand. Spanische und italienische, später portugiesische und griechische, dann auch jugoslawische und türkische Männer und Frauen kamen in die Industrie aber auch z.T. noch in die Landwirtschaft. Während die deutsche Regierung zwar noch ein Anwerbeabkommen mit Marokko abschloss, es wegen der krisenhaften Entwicklung nach der Ölpreisanhebung 1973 aber nicht mehr implementierte, kamen nach Frankreich in großen Zahlen Arbeitskräfte aus Nord- und Westafrika und auch aus den karibischen Kolonien und, mit dem Verlust der Kolonien in Südostasien und dem Vietnam- und Kambodiakrieg, aus Südostasien.

La guerre d’Algérie

Quelle: isuisse.ifrance.com/moudjahid23/guerre1.htm

Die Unabhängigkeit Algeriens [7] führte zur Massenflucht französisch-algerischer Siedlerfamilien, sog. pieds noirs, und von algerischen Hilfstruppen, sog. harkis. Die schwierige ökonomische Lage in Algerien, aber auch in Marokko, das französisches "Protektorat" gewesen war, resultierte in weiterer Arbeitswanderung nach Frankreich. Die deutsche wie die französische Gesellschaft sind seit den 1960er Jahren multikulturelle Gesellschaften, obwohl die deutschen Regierungen bis 1998 immer wieder betont haben, Deutschland sei kein Einwanderungsland sondern werbe nur Gastarbeiter/innen nach dem Rotationsprinzip an, und obwohl die französische Position zwar Einwanderung und Einbürgerung zulässt, aber von schneller Franzisierung ausgeht.