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'Amerikanisches Primat und europäische Zerwürfnisse'
 
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Amerikanisches Primat und europäische Zerwürfnisse

Die deutsche Präsenz der ersten Stunde erfuhr gegen Mitte der 1990er Jahre eine Relativierung, einerseits durch eine stärkere deutsche Ausrichtung nach Russland, andererseits durch eine Intensivierung der Beziehungen zwischen den USA und Mittelosteuropa. Tiefgreifende Reformen bringen zwangsläufig eine gewisse Introvertiertheit mit sich: Dieses zeigte sich deutlich in Deutschland unmittelbar nach der Vereinigung, in Osteuropa, aber auch im beschleunigten europäischen Integrationsprozess seit dem Vertrag von Maastricht [1]  im Jahr 1992. Schien die Osterweiterung der EU zu Beginn der 1990er Jahre eine Selbstverständlichkeit zumindest für die Schlüsselländer Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zu sein, so mussten die widersprüchlichen Aussagen über den Beitrittstermin und seine Vertagung zu Verunsicherung und Verstimmung in den Hauptstädten Mittelosteuropas führen. Obwohl sich auch die zweite Administration Clinton gegenüber einer Erweiterung der NATO über Polen, Ungarn und die Tschechische Republik hinaus (10) eher skeptisch zeigte, wurde diese Skepsis zum Vorteil Washingtons jenseits der Oder schlicht ignoriert. Die USA blieben aus dortiger Sicht der einzige zuverlässige Partner, die Westeuropäer waren es nicht. Erst mit den Amtsantritten Bushs und Putins im Jahr 2000 und den Attentaten auf das World Trade Center änderte sich die politische Großwetterlage so, dass nunmehr eine NATO-Erweiterung mit russischer Akzeptanz möglich erschien. In historischen Tagungen beschlossen NATO und EU im Dezember 2002 die Erweiterung qua "Big Bang" mit einer historisch bisher nicht vergleichbaren Anzahl von Staaten. Die amerikanisch-russische Kooperation nach dem 11. September 2001 währte jedoch nicht lange: Der Krieg im Irak führte zum Zerwürfnis, und die Risse zogen nun erstmals durch das noch nicht einmal vereinigte Europa, Risse zwischen dem, wie Donald Rumsfeld es nennen sollte, "alten" und "neuen", zwischen West- und Osteuropa.

Abbildung 7:

Auf dem NATO-Gipfel in Brüssel vom 10. bis 11. Januar 1994 wurde ein Programm zur militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und den osteuropäischen Staaten vereinbart.

 

Internetquelle [2]

Das entschiedene deutsche und französische Nein zur amerikanisch-britisch-spanischen Intervention im Irak veranlasste den amerikanischen Politiker und Wolfowitz-Vertrauten Bruce Jackson, in den Hauptstädten Mittel- und Osteuropas um die Unterstützung für die Allianz zu werben. Der unter seiner Feder entstandene so genannte "Brief der Acht [3] " machte in der Weltpresse ab dem 5. Februar 2003 Schlagzeilen (11). Verärgert, insbesondere nach der bedeutenden Nachbewilligung von Mitteln für die EU-Erweiterung im Dezember 2002, ließ sich der französische Präsident Jacques Chirac zu der Replik hinreißen: "Die osteuropäischen Staaten haben eine gute Gelegenheit versäumt, den Mund zu halten." (12) (Originaltext der Pressekonferenz [4] ) So gerechtfertigt diese Aussage erscheinen mag, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass der "Brief der Acht" von einem einflussreichen amerikanischen Politiker aufgesetzt worden war, so katastrophal war ihre Auswirkung: In den Hauptstädten von Prag bis Budapest verfestigte sich der Eindruck eines überaus arroganten und autoritären Paris, und unangenehme Erinnerungen an sowjetische Gängelung wurden wach. In der Folge begannen die Ereignisse sich zu überschlagen: Polen, dessen Übereifer nach dem NATO-Beitritt in weltpolitischen Angelegenheiten zuvor in Washington Missbilligung ausgelöst hatte (13), wurde als Dank für seine Beteiligung an der Allianz und zur öffentlichen Brüskierung der anderen Europäer eine Besatzungszone des Irak, der schwierige Nord-Irak, zuerkannt. Dieses konnte nur die Missstimmung in Brüssel verstärken, hatte doch Polen erhebliche Sonderfonds für die Sicherung seiner über 1 000 km langen Ostgrenze nachverhandeln können und sah sich nun dem Verdacht ausgesetzt, diese für militärische Operationen zu verwenden.

Gleichzeitig opponierten Polen und Spanien mit Miller und Aznar gegen ein vermeintlich deutsch-französisch dominiertes Europa und brachten die Konvent [5] sverhandlungen im Dezember 2003 zum Scheitern. Auf Jahrzehnte, so schien es noch im Dezember des vorigen Jahres, waren der Versuch der politischen Integration Europas vertagt und die Bemühungen Giscard d'Estaings und der Konventsmitglieder umsonst gewesen. Die Osterweiterung würde ohne die notwendigen institutionellen Reformen stattfinden. Umso überraschender, dass die Regierungswechsel in Polen und Spanien den Weg zur Europäischen Verfassung und Reform nur wenige Monate später wieder freigeben sollten.