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'Grenzfragen für ein vereintes Deutschland'
 
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Grenzfragen für ein vereintes Deutschland

Nicht nur in Frankreich, sondern auch in den anderen Staaten der EG wuchs die Unruhe, denn keiner konnte sich vorstellen, wie es mit den beiden Deutschlands weitergehen würde. Kurzfristig lud François Mitterrand deshalb zu einem europäischen Sondergipfeltreffen zum Samstag, dem 18. November, ein - für die Dauer eines Abendessens im Élysée. Zwei Tage zuvor hatten der französische Parlamentspräsident Laurent Fabius und die deutsche Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth symbolisch einen gemeinsamen Besuch in Moskau absolviert.

Zwischen Mitterrand und Kohl, zwischen Dumas und Genscher hatte es mehrfach telephonischen Kontakt gegeben, und die Frage: Wie steht die Bundesrepublik zur Oder-Neiße-Grenze?, war von den Franzosen aufgeworfen worden. Mitterrand hatte von Kohl keine befriedigende Antwort erhalten, Dumas wohl aber von Genscher, der schon im September vor der UNO die Grenze als historisch gegeben und unantastbar erklärt hatte. Die Frage der Oder-Neiße-Grenze war für Mitterrand deshalb so wichtig, weil Frankreich wegen der Garantie von Polens Westgrenze in den Zweiten Weltkrieg geschlittert war, ohne aber wirklich Krieg zu führen. Es war der Zustand, den die Franzosen als "la drôle de guerre" bezeichneten, bis die Deutschen im Mai 1940 einmarschiert sind. Die Polen aber haben es den Franzosen stets übel genommen, daß sie nicht vom ersten Tag an gekämpft haben. Diesmal nun wollte Mitterrand gegenüber den Deutschen hart bleiben: Bedingung für eine deutsche Wiedervereinigung mußte die endgültige Anerkennung dieser Grenze sein. 

Das Gipfeltreffen im Élysée verlief in zwei getrennten Sälen; im einen speisten die Staats- und Regierungschefs, im anderen deren Außenminister. Nach etwas mehr als drei Stunden trat Helmut Kohl als erster aus dem Élysée und war sichtlich gut gelaunt. Er sagte, die Ängste, die in einigen europäischen Hauptstädten entstanden seien, wären beseitigt worden. Nein, man habe am Tisch der Chefs nicht von der Oder-Neiße-Grenze gesprochen. Das hatte man aber am Tisch der Außenminister. 

Als das Diner zu Ende war, fiel wieder das damals überstrapazierte Wort "historisch". "Historisch" sei dieser Gipfel gewesen, weil die Staats- und Regierungschefs der zwölf EG-Länder in äußerster Harmonie übereinkamen, Staaten des Warschauer Paktes wirtschaftlich zu helfen. "Hilfe gibt es jedoch nur unter der Bedingung", so Staatspräsident François Mitterrand, "daß diese Länder wirklich zur Demokratie zurückkehren, die Menschenrechte respektieren und freie, geheime Wahlen abhalten." Beim Essen hatte man festgestellt, daß Polen und Ungarn diese Bedingungen schon erfüllt hätten und beiden Ländern über den kommenden Winter 1989 geholfen werden müsse. Die DDR habe ihren Willen zur Demokratie noch zu beweisen. Indem die DDR so mit Polen und Ungarn gleichgestellt wurde, verlor sie ihre Besonderheit als ein Teil Deutschlands, der mit dem anderen Teil vereint werden könnte. 

Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher mußten an ihren Tischen Rede und Antwort stehen, ob sie Europa oder der Wiedervereinigung den Vorrang gäben. Beide konnten für den Augenblick überzeugen, daß es für sie keine Alternative zur Europäischen Einigung und zur Westbindung gäbe. Besonders trug zur Beruhigung bei, daß die beiden deutschen Politiker sich der gemeinsamen Feststellung anschlossen, eine Vereinigung von Ost- und Westdeutschland komme jetzt nicht in Frage. Die Zwölf rangen Bundeskanzler Kohl auch die Zustimmung zu dem Beschluß ab, daß nicht nur die Grenzen in Europa unverändert bleiben sollten, sondern auch, daß am Bestehen der Militärblöcke - dem Warschauer Pakt und der NATO - nicht gerüttelt werden dürfe. Denn, so sagte die britische Regierungschefin Margaret Thatcher, damit sei man bisher gut gefahren, darum solle alles bleiben wie bisher, und damit sprach sie François Mitterrand aus der Seele. Bleiben die Blöcke, bleiben Ost und West in ihren Grenzen, also auch Deutschland getrennt. 

Die eingetretene Beruhigung weicht nur zehn Tage später großer Irritation, die den Keim für eine Verärgerung Mitterrands sprießen läßt. Sie wird in den folgenden Monaten zu einer bleibenden Entfremdung zwischen ihm und Helmut Kohl führen. Als der deutsche Bundeskanzler am Dienstag, dem 28. November, vor dem Bundestag - zu aller Überraschung - seinen Zehn-Punkte-Plan zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas vorträgt, ohne zuvor Paris informiert, geschweige denn konsultiert zu haben, wächst wieder die Sorge vor einem möglichen Alleingang Bonns. Das, was das Ausland immer wieder als "incertitudes allemandes", als "deutsche Unwägbarkeiten", beunruhigt hat (und sowohl während des Golf- als auch anläßlich des Jugoslawien-Konflikts beunruhigen wird), taucht wieder auf. Zwar widersprechen die zehn Punkte im wesentlichen nicht den Beschlüssen des Élysée-Sondergipfels vom 18. November, doch fehlt der "elfte Punkt", die ausdrückliche Anerkennung der polnischen Westgrenze. 

Am Tag darauf, am Mittwoch, dem 29. November, ergibt sich während seines Besuches in Athen eine Gelegenheit, Staatspräsident Mitterrand zu Kohls Bundestagsauftritt zu befragen, und Mitterrand wiederholt stets die gleichen Bedingungen, fügt aber expressis verbis hinzu: "Friedlich bedeutet..., daß wir nicht das Risiko eingehen dürfen, wieder zu einem Klima von der Art des Kalten Krieges zurückzukehren. Deshalb wurde anläßlich des Treffens vom 18. November in Paris vereinbart daß die zwölf Partner die Frage der Grenzen nicht anrühren würden." 

Noch ist eine Position Mitterrands nicht ausgereift, nämlich ob die DDR, würde sie in einem Staatenbund mit der Bundesrepublik zusammengeschlossen, assoziiertes Mitglied der EG werden könne. In Athen sagt er, auf eine gewisse indirekte Weise sei die DDR ja schon assoziiert: "Nein, diese Sicht der Dinge schockiert mich überhaupt nicht." 

Am 30. November fliegt Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nach Paris, um dem französischen Staatspräsidenten und seinem Amtskollegen Roland Dumas das von Kohl vorgelegte "Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas" zu erläutern. Genscher gegenüber erklären die beiden französischen Politiker, sie hätten keinerlei Vorbehalte gegen die deutsche Wiedervereinigung. 

"Aber sie stellten Bedingungen für die deutsche Einheit", sagte ich zu Genscher, als er mir von Mitterrands Zustimmung erzählte. 

"Ja, das taten sie", erwiderte Genscher schmunzelnd. "Aber mit den Bedingungen war ich vollends einverstanden." (22)

Und so wird man in den folgenden Monaten sehen, daß Hans Dietrich Genscher in der Wiedervereinigungspolitik manchmal den beiden Franzosen nähersteht als dem deutschen Bundeskanzler, ja, daß die drei, die sich da in Paris getroffen hatten, gegen Kohl Billard über die Bande spielten. 

Später wird Mitterrand, gefragt, weshalb er vom Zehn-Punkte-Plan nichts gewußt habe, sagen: "Der Kanzler war nicht gehalten, mich zu informieren; es war eine spezifisch deutsche Sache, die Frankreich aber dennoch angeht. Ich habe mich, ohne gefragt zu werden, damit beschäftigt." (23)

In der DDR rast der Zerfallsprozeß weiter: Am 3. Dezember treten Egon Krenz, das gesamte Politbüro und das Zentralkomitee zurück. 

In Paris suchen die Politiker aller Parteien nach ihrer Position. Wie vor wichtigen politischen Entscheidungen üblich, lädt der Staatspräsident die Präsidenten der Kammern und die Chefs der in der Nationalversammlung vertretenen Parteien in der ersten Dezemberwoche zu Einzelgesprächen ein, denn nach dem NATO-Gipfel in Brüssel - am 4. Dezember - wird, sehr viel wichtiger, am 8./9. Dezember der reguläre EG-Gipfel in Straßburg stattfinden und sich mit der Weiterentwicklung der EG, aber auch der Lage in Osteuropa, also der möglichen Wiedervereinigung Deutschlands, befassen. 

François Mitterrand fliegt am 6. Dezember, zwei Tage vor dem EG-Gipfel, zu einem Kurzbesuch nach Kiew, wo er sich mit Michail Gorbatschow trifft. Die Begründung für die Reise ist einfach: Als EG-Ratspräsident will er die Meinung des obersten Sowjetführers vor dem Gipfel einholen, um besser gerüstet zu sein für die Argumentation im Kreise der Zwölf. Er erklärt Gorbatschow seine Vorstellung, wonach zwei deutsche Staaten existierten und daß ein jeder seine eigene Bedeutung für das europäische Gleichgewicht habe, die Bundesrepublik wirtschaftlich in der EG, militärisch in der NATO (als stärkste konventionelle Armee und als "Frontstaat") und die DDR wirtschaftlich im COMECON und militärisch im Warschauer Pakt (eben auch hochgerüstet und "Frontstaat"). Wenn auch die demokratische Selbstbestimmung des Volkes in der DDR dessen eigene Sache sei, so wäre eine Lösung aus den Blöcken nicht wünschenswert. In diesem Augenblick geht Mitterrand noch von der Prämisse aus, daß eine Lösung der DDR aus dem Ostblock nur zu erreichen sei, wenn die Bundesrepublik ihrerseits sich vom Westblock - in welcher Weise auch immer - entferne. 

In Kiew sagt Mitterrand: "Wenn die Blöcke auch nicht unbedingt wünschenswert sind, so scheinen die Allianzen doch notwendig... Diese Probleme müssen wir klar und vertrauensvoll mit unseren deutschen Freunden angehen. Man muß schließlich die Reihenfolge der Tatsachen respektieren. Denn diese Fragen und ihre Antworten müssen präzis geklärt werden. Viele dieser Fragen drehen sich um den von Bundeskanzler Kohl vorgeschlagenen Plan, aber darin ist nicht alles gesagt. Doch der Bundeskanzler legte Wert darauf, festzustellen, ich wiederhole es, wie er es anderen mitgeteilt hat, daß diese Vorschläge nicht mit einem Zeitplan versehen seien, da es ihm nicht zustünde, den Ablauf festzulegen. Er hat nicht, wie man es hätte glauben können, die Lage ins Wanken gebracht. " Und Mitterrand fügt wieder an, was ihm bei Kohl fehlt: "Die KSZE ruht auf den Prinzipien von Helsinki, woran Präsident Gorbatschow erinnert hat, nämlich: die Unantastbarkeit der Grenzen, was heißt, daß man nicht einfach so die Grenzen anrühren kann." 

Beide kommen darin überein, daß - was auch immer aus den beiden Deutschland werde - den Deutschen der Besitz von eigenen Atomwaffen weiterhin verboten bleiben müsse. 

Michail Gorbatschow hatte für 1990 eine KSZE-Konferenz der Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen, für die besonders die USA keine große Begeisterung zeigten, da Washington Probleme am liebsten bilateral anging. François Mitterrand stellt sich in Kiew jedoch an die Seite Gorbatschows, unterstützt die Idee der Konferenz und schlägt Paris als Tagungsort vor. Noch ist niemandem klar, wie und in welchem Rahmen eine Lösung (und wenn, welche?) der Entwicklung in der DDR herbeigeführt werden kann, doch Mitterrand zieht eine Regelung im Rahmen einer internationalen Konferenz bilateralen Abmachungen, auf die Frankreich weniger Einfluß haben könnte, vor. 

François Mitterrand fliegt ein wenig enttäuscht aus Kiew zurück, denn er hat sich von Michail Gorbatschow eine noch größere Unterstützung erhofft, um die Blöcke und damit die alte Ordnung in Europa zu erhalten. Auf der Rückreise erzählt er den mitreisenden Journalisten im Flugzeug, Gorbatschow habe ihm gesagt, käme es zur deutschen Wiedervereinigung, dann säße zwei Stunden später ein sowjetischer Marschall auf seinem Stuhl. Wer aber im Westen wollte schon zum Sturz von Gorbatschow beitragen? 

In gespannter Atmosphäre kommen die zwölf Delegationen der EG in Straßburg am Freitag, dem 8. Dezember, zum Europäischen Rat zusammen. François Mitterrand ist im Vorfeld durch einen Brief Helmut Kohls verärgert worden, in dem der deutsche Bundeskanzler aus innenpolitischen Gründen vorschlug, die Frage der Regierungskonferenz über eine europäische Währungs- und Finanzunion hinauszuschieben und zu überlegen, wie die Währungsunion mit stärkeren Kontrollmöglichkeiten des Europäischen Parlaments verknüpft werden könnte. Mitterrand, beeinflußt durch die französische Verfassungswirklichkeit, hält ein starkes Parlament nicht für sinnvoll, weil es die Exekutive schwächt. Er wollte aber gerade die Frage der Regierungskonferenz über die Währungsunion während seines EG-Vorsitzes lösen und damit Frankreichs EG-Präsidentschaft krönen. Den Brief des deutschen Bundeskanzlers legt er deshalb als einen Versuch der Verzögerung der europäischen Einheit aus. Kohl dagegen fährt nach Straßburg mit dem Ziel, von den EG-Partnern eine Erklärung zur Selbstbestimmung der Deutschen zu erhalten, die François Mitterrand - und damit steht er nicht allein - nicht zu geben bereit ist. 

Bei Gipfeltreffen sind die informellen Gespräche während der Essen manchmal wichtiger als Plenarsitzungen, denn dort wird offen gesprochen. Die Frage der Regierungskonferenz war kein Streitpunkt mehr, da die Deutschen im Vorfeld noch auf die französische Linie eingeschwenkt waren, allerdings mit dem Trick, die Konferenz zwar 1990 beginnen zu lassen, aber erst in der zweiten Hälfte Dezember nach den deutschen Bundestagswahlen. So blieben als Themen für das Mittagessen und das Diner am Abend des Freitags: die deutschen Vorstellungen über Europa und die Wiedervereinigung. Helmut Kohl zeigte sich in der geschlossenen Gesellschaft europäischer und klarer, als er es vor der Öffentlichkeit in den letzten Wochen gewesen war, insbesondere was die Frage der Oder-Neiße-Grenze betraf; denn es reichte den Regierungschefs nicht, daß der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf seine Rede vor der UNO hinwies, wo er die Oder-Neiße-Grenze für unantastbar erklärt hatte. Sie wollten die Garantie vom Bundeskanzler hören. Nicht so sehr Mitterrand, aber die britische Premierministerin Margaret Thatcher, der Holländer Lubbers und der Italiener Andreotti machten ihm Feuer. 

Helmut Kohl erinnert sich später an den "stürmischen Sondergipfel in Straßburg": "Da herrschte ein eisiges Klima, weil viele dachten, wir seien bereit, um der staatlichen Einheit willen unsere Zugehörigkeit zur NATO zur Disposition zu stellen. Ich werde nicht vergessen, daß mir damals Spaniens Regierungschef Felipe Gonzales sehr hilfreich zur Seite stand.". (24)

Im Kreis der Staats- und Regierungschefs ließ Helmut Kohl keinen Zweifel daran, daß auch für ihn die Oder-Neiße-Grenze unantastbar sei, wozu er sich bisher öffentlich nicht hatte erklären wollen, was er aber auch in den folgenden Monaten nicht öffentlich tat, weshalb der gute Eindruck von Straßburg bald wieder schwand.

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Anmerkungen

(22) Gespräch des Autors mit Hans Dietrich Genscher am 17.9.1992

(23) Interview mit Antenne 2, 10.12.1989

(24) Helmut Kohl, in: Welt am Sonntag, 27.9.1992, S. 27.

 

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