French
German
 
Seite zur Sammlung hinzufügen
'Die "deutsche Frage"'
 
Keine Seiten in der Sammlung.
 
 
 
 
 

Sie sind hier: Deuframat > ... > Die "deutsche Frage"

Die "deutsche Frage"

In der geopolitisch eingefärbten Sprache der Diplomaten und außenpolitischen Kommentatoren des 19. und 20. Jahrhunderts bedeutete die Kombination des Hauptworts "Frage" mit dem eine Nation oder eine Ethnie bezeichnenden Adjektiv in der Regel nichts Gutes. Irgendetwas war dann mit dieser Nation oder dieser Ethnie nicht ganz geheuer. Meistens ging es um unsichere Grenzverläufe, um territoriale Ansprüche (Revisionismus), um Sezessionsbestrebungen oder um ein ähnlich gravierendes politisches Problem, welches das jeweils bestehende Gleichgewicht in Frage stellte. Solche "Fragen" besaßen einen Binnen- und einen Außenaspekt, und beide standen häufig quer zueinander.

Abbildung 1:

"Wäsche für Genf", 1955:
"Stocksteif und zugeknöpft wünscht sich Bundeskanzler Adenauer seinen neuen Außenminister Heinrich von Brentano für die Genfer Außenministerkonferenz, an der beide deutsche Staaten als Beobachter teilnehmen dürfen. Ein wichtiges Thema ist dort die deutsche Frage. Die Bundesrepublik ist nicht bereit, die deutsche Teilung hinzunehmen"

Internet-Quelle [1]

Manche dieser Fragen besaßen tiefe historische Wurzeln. So auch die "deutsche Frage" [2] . Sie ist, wenn man so will, sogar noch älter, weil aus dem Neuordnungskonzept für die europäische Staatenwelt nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) hervorgegangen. Damals achteten die anderen europäischen Mächte darauf, dass in der Mitte des europäischen Kontinents kein mächtiger Nationalstaat entstand, vielmehr ein Flickenteppich von größeren, kleineren und ganz kleinen politischen Einheiten, deren Energien nicht zuletzt durch die gegenseitige Rivalität absorbiert wurden. Damit wurde eine starke Zentralmacht in der Mitte Europas verhindert, denn von einer solchen deutschen Zentralmacht erwartete man eine hegemoniale und die anderen europäischen Mächte potentiell bedrohende Politik.
In dieser Ordnungsvorstellung der anderen europäischen Mächte hatte das nationale Einheitsstreben der Deutschen keinen Platz.

Abbildung 2:

Deutschland nach dem 30-jährigen Krieg

 

 

 

 

 

Internet-Quelle

Dieses Streben nach nationaler Einheit der Deutschen, das sich in den Jahrzehnten seit den Kriegen gegen Napoleon bis zu seiner Erfüllung in der Reichsgründung von 1871 [3] nicht nur gegen die Skepsis der ausländischen Mächte, sondern auch gegen die partikularen Interessen der deutschen Klein- und Minisouveräne zu behaupten hatte, bildete den Kern der "deutschen Frage".

Abbildung 3:

Deutsches Reich 1871-1918

 

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [4]

Nach der Reichsgründung, einem Akt, der formal gar nicht in Deutschland selbst, sondern in Versailles stattfand, wandelte sie sich: In Deutschland begannen sich nämlich, nach Bismarcks Abgang 1890 mit rasch wachsender Dynamik, hegemoniale [5] und imperialistische [6] Tendenzen zu entwickeln, welche die Vorbehalte der Nachbarn des Deutschen Reiches zu bestätigen schienen und in den Ersten Weltkrieg mündeten. Am Ende des Ersten Weltkrieges (1914-1918) schienen die deutschen Ambitionen nachhaltig geschwächt zu sein. Diesen Zustand zu sichern, war eine der Aufgaben des Versailler Friedensvertrages [7] , der also durch den Ort, an dem er abgeschlossen wurde, nicht nur als materiell-territoriale, sondern auch als symbolische Korrektur der deutschen Reichsgründungs-Perspektiven gedacht war.

Abbildung 4:

Gruß aus Kiao-Tschau
Postkarte 1900, 9 x 13 cm, DHM, Berlin, PK 96/522

 

 

Internet-Quelle [8]

1918/19 bedeutet bekanntlich nicht das Ende der deutschen Frage, vielmehr wurde sie in den folgenden Jahren von innen her in die Form eines Revanchegeistes gegossen und von den benachbarten Mächten, als dieser Revanchegeist nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 immer militanter und aggressiver wurde, erst mittels einer gewissen Nachgiebigkeit (appeasement), dann aber, als diese nichts einbrachte, durch eigene Kriegsanstrengungen beantwortet.

Abbildung 5:

Besatzungszonen in Deutschland

 

 

 

 

 

Internet-Quelle [9]

Der Zweite Weltkrieg [10] (1939-1945) endete mit einer totalen Niederlage, etlichen territorialen Verlusten und der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen [11] . Die Siegermächte schienen also zum Rezept von 1648 zurückgekehrt zu sein. Solche historischen Parallelen darf man allerdings nicht zu stark betonen, denn nach 1945 war der politische Kontext ein völlig anderer. Schon die Jahrzehnte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren nicht nur von herkömmlichen Konflikten um Territorien und Einflussgebiete bestimmt, sondern von einem neuartigen, einem tiefreichenden strukturellen Konflikt zwischen drei unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen, nämlich der bürgerlichen Gesellschaft, dem sowjetischen (bolschewistischen) Typus des Sozialismus/Kommunismus und dem Faschismus/Nationalsozialismus. Die nationalsozialistische Kriegspolitik [12] und die rassistischen Unterwerfungs- und Vernichtungsprogramme gingen weit über die überlieferten Revanchevorstellungen hinaus, welche die "deutsche Frage" aus deutscher wie ausländischer Perspektive bis 1933 ausgemacht hatten. Die Niederwerfung Deutschlands bedeutete in erster Linie die Beendigung des Nationalsozialismus. Woher hatte der Nationalsozialismus seine Durchschlagskraft gezogen? Aus einer bestimmten kollektiven Mentalität der Deutschen oder als Konsequenz eines "deutschen Sonderweges" bei der Entwicklung von Staat und Gesellschaft? Wie kann besser als 1918 verhindert werden, dass es zu einer Wiederholung deutscher Aggression gegen seine Nachbarn kommt? Wie kann, in anderen Worten, Sicherheit vor Deutschland hergestellt werden? Sicherheit vor Deutschland - so wurde die "deutsche Frage" nach 1945 vom Ausland formuliert, zuletzt mit aller Deutlichkeit noch einmal 1989/90.
Die "nationale Frage" der Deutschen wurde nach 1946/47 in raschem Tempo vom Ost-West-Konflikt in seiner Phase als Kalter Krieg [13] überlagert und in gewissem Sinne auf Eis gelegt. Aus vier Besatzungszonen wurden 1949 zwei Staaten, die in die beiden antagonistischen Großbündnisse fest integriert waren. Diese Integration umfasste sowohl einen Entwicklungs- als auch einen Kontrollaspekt. Letzterer wurde besonders in Bezug auf die Streitkräfte der Bundeswehr relevant. Die feste Integration der Bundesrepublik in die westlichen Bündnisse, auf europäischer und auf transatlantischer Ebene, eröffnete ihr die Chance, das eigene nationale Interesse neu zu definieren, so dass sie von den Nachbarn nicht länger als bedrohlich angesehen wurde. Die Deutschen selbst betrachteten nach 1945 alles, was mit der Teilung und der Möglichkeit zusammenhängt, die nationale Einheit zurückzuerlangen, als "deutschen Frage". Die "deutsche Frage" ist offen, solange das Brandenburger Tor geschlossen bleibt, hat Richard von Weizsäcker einmal geschrieben.
Ist, seit das Brandenburger Tor geöffnet und Deutschland wieder und in einer anderen Gestalt als früher, nämlich unter Abzug von Territorien nicht unbeträchtlicher Größe, vereinigt ist, die "deutsche Frage" nicht länger offen, also im Einvernehmen aller Betroffener gelöst?