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'Die orientalische Bedrohung Mitteleuropas'
 
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Die orientalische Bedrohung Mitteleuropas

Mit einigen Vorbehalten lässt sich in der zeitgenössischen Debatte eine eher liberale Variante der Mitteleuropaidee neben verschiedenen Varianten einer ausgeprägt imperialistisch verformten Mitteleuropaidee ausmachen. Was Letztere betrifft, so war insbesondere Ernst Jäckh ein Befürworter einer weit ausgreifenden Mitteleuropapolitik, die in geopolitischen Begriffen dachte und die vor allem den Vorderen Orient im Blick hatte. Er wurde nicht müde zu argumentieren, dass es in diesem Kriege vor allem um die künftige Herrschaft über den Nahen Osten gehe: "Der Krieg kommt aus dem Orient (aus dem russischen und deutschen Zusammenstoß um Konstantinopel); der Krieg geht um den Orient (den Landweg Deutschlands in die Welt, den die Einkreisungspolitik uns sperren will); der Krieg endigt in dem Orient (durch den Sieg von Mitteleuropa)." (41) Die deutsche Beherrschung der wirtschaftlich wie strategisch gleichermaßen bedeutsamen Nahostregion war für Jäckh freilich nur der Hebel, um die deutsche Weltmachtstellung für alle Zukunft sicherzustellen und unangreifbar zu machen. Schon im Herbst 1916 hatte er geschrieben (42):

"Wenn Deutschland samt seinen Verbündeten siegt, d. h. wenn es in der Hauptsache seine jetzige Stellung, seine Bündnisse und die Verfügung über die eroberten Gebiete in irgendeiner Form behauptet, so bildet sich damit im Zentrum Europas eine Macht von unwiderstehlicher Stärke, die alle Kraft, die wirtschaftliche, die finanzielle und großenteils auch die militärische Leistungsfähigkeit Mitteleuropas mit derjenigen Belgiens, Polens, der eroberten Provinzen Litauen und Kurland, eines Teils von Weißrussland und von der Ukraine, Serbiens, Rumäniens, Bulgariens und des gesamten türkischen Orients vereinigt. Diesem kolossalen Block, dessen Gebiet von der Scheidemündung bis zum Rigaschen Meerbusen, von Hamburg bis Bagdad, von den Wolhynischen Sümpfen bis zum Adriatischen Meer und bis zur Grenze Ägyptens reicht, würde in Zukunft überhaupt nichts widerstehen können, denn nicht nur seine direkte militärische und ökonomische Kraft wäre über die Maßen groß, sondern auch durch die Beherrschung oder Bedrohung einiger der wichtigsten ... strategischen Punkte der Welt.. ."

 

Jäckh verband mit der Mitteleuropaidee die Erwartung, dass auf solche Weise die deutsche Weltmachtstellung auf alle erdenkliche Zukunft hinaus gesichert werden könne. Hinter diesen wahrhaft gigantischen Zielen trat die Frage, wie denn dieser Staatenverband innerlich zu organisieren und zur Hinnahme der deutschen Vorherrschaft gebracht werden könne, einigermaßen zurück. Er vertraute auf die Organisationskraft der deutschen "organischen" Staatsidee, die mit der Respektierung der jeweiligen nationalen Eigenarten der Partner des Deutschen Reiches einherzugehen vermöge.

Sehr viel realistischer und konkreter sah Friedrich Naumann, nicht zuletzt zu Teilen unter dem Einfluss Max Webers, die großen Probleme, vor die sich die deutsche Politik gestellt sah. Er erkannte, dass man die anderen Völker innerlich gewinnen müsse und dass dies nur durch den Übergang zu einer aufrichtig liberalen Politik möglich sei. Demgemäß setzte sich Naumann, und mit ihm auch seine Mitstreiter im Arbeitsausschuss Mitteleuropa, insbesondere für eine aufrichtige Verständigung mit dem polnischen Volk ein und für eine wirkliche und nicht bloß formale Autonomie des neuen polnischen Staates innerhalb des Völkerverbunds der Mittelmächte. Ebenso bemühte er sich darum, auch außerhalb der Mittelmächte, insbesondere in Bulgarien, Stimmung für einen mitteleuropäischen Zusammenschluss zu gewinnen. Vor allem aber erkannte er, dass Mitteleuropa nur dann eine Zukunft haben könne, wenn dies mit der uneingeschränkten Respektierung der Eigenrechte sowohl der Nationalitäten wie auch der verschiedenen religiösen Gemeinschaften einhergehe. Demgemäß stellte er die Maxime auf: "Mitteleuropa hat sich in Nationalitäts- und Konfessionsangelegenheiten durchaus nicht einzumischen", um hinzuzufügen, dass umgekehrt "Mitteleuropa ... ohne Duldsamkeit der Nationalitäten und Konfessionen nicht denkbar" sei (43). Die kleineren Nationen hätten, so argumentierte er, in der heutigen Welt nur noch die Chance, sich größeren Verbänden anzuschließen: "... die Wirklichkeit gestattet keine besonderen kleinen Nationalstaaten mehr." (44) Dies setze freilich voraus, dass die Deutschen als das stärkste Volk Mitteleuropas jedem Gedanken an eine Germanisierung der kleineren Völker öffentlich absagen und stattdessen den Schutz der nationalen Minderheiten im Osten zu ihrem Programm machen müssten (45).

Eine großzügige, liberale Lösung der polnischen Frage musste Friedrich Naumann von diesen seinen politischen Prämissen her als entscheidend ansehen. Er suchte auf die amtliche Politik in der polnischen Frage mit publizistischen Mitteln einzuwirken, und lange verschloss er sich der vollen Einsicht in die Tatsache, dass von einer wirklichen inneren Änderung der deutschen Einstellung gegenüber Polen nicht die Rede sein konnte. Stattdessen suchte er die Polenpolitik des Generalgouverneurs von Beseler im liberalen Sinne zu interpretieren und damit zugleich bei den Polen Verständnis für die deutsche Politik und umgekehrt bei den Deutschen Einsicht in die schwierige Lage und die verständlicherweise misstrauische Geistesverfassung der Polen zu wecken (46). Kurt Riezler gehörte gleichermaßen zu jenen, die die "Mitteleuropaidee" auch dann noch enthusiastisch propagierten, als sich abzeichnete, dass die politischen Voraussetzungen für deren Durchsetzung einstweilen dahingeschmolzen waren. Die Proklamation eines der Form halber selbständigen polnischen Königreichs unter einem österreichischen Erzherzog, aber in faktisch vollständiger Abhängigkeit von den Mittelmächten, die an die Stelle der austropolnischen Lösung samt ihrer "mitteleuropäischen" Einbettung übrig geblieben war, gab Riezler am 16. November 1916 gleichwohl Anlass zu einer bemerkenswerten Zukunftsprognose: "Trotzdem spürt man bereits heute an allen Ecken und Enden, welcher Rubikon überschritten ist und welcher Schritt vorwärts dem großen Ziele zu gemacht ist. Es gibt nur eine Rettung, die liegt in den Vereinigten] Staaten von Mitteleuropa mit Polen getragen von den Arbeitermassen und einer übernationalen Bewegung - in der Überwindung all der kleinen Nationalismen. Da liegt die Zukunft - und dahin führt der Krieg von alleine die Ideen. Überall wird eine furchtbare Dämmerung des Nationalismus kommen .. ." (47) Weitsicht und Verkennung der geschichtsmächtigen Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts sprechen gleichermaßen aus dieser Äußerung; denn vorderhand konnte von einer Abschwächung, geschweige denn einer Brechung der nationalstaatlichen Egoismen keine Rede sein.

Abbildung 20:

Der Friede von Brest-Litowsk (3. März 1918) bedeutete einen schweren Rückschlag für Sowjetrussland: Es musste u. a. auf Polen, Litauen, Lettland und Estland verzichten, die Unabhängigkeit Finnlands, Georgiens und der Ukraine anerkennen und Reparationszahlungen in Höhe von sechs Milliarden Goldmark leisten. Mit dem Waffenstillstandsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und den Alliierten im November 1918 wurde der Friede von Brest-Litowsk wieder aufgehoben.

Internet-Quelle [1]

In den letzten Jahren des Weltkriegs wurde die Mitteleuropaidee vielmehr vollends von einer robusten deutschen Machtpolitik gigantischen Stils abgelöst, die ihre schroffste Ausprägung im Frieden von Brest-Litowsk fand. Die hier angestrebte Lösung eines Gürtels von abhängigen Satellitenstaaten im Osten, zu denen ja im Westen zumindest Belgien hinzukommen sollte, hatte mit den Mitteleuropaplänen nichts mehr gemein. Die Idee, eine neue mitteleuropäische Ordnung zu begründen, die sich nicht allein auf die Macht der Waffen und die Vorteile eines großen, einheitlichen Wirtschaftsraums, sondern auch auf die freiwillige Zustimmung der kleineren europäischen Nationen stützte, wie sie unter anderem Naumann damals propagierte, war einstweilen gescheitert; sie fand eine kurzfristige Wiederbelebung allenfalls als ein Mittel, um Österreich-Ungarn, nachdem es durch die Sixtus-Affäre jeglichen Kredit bei den deutschen Führungsschichten verloren hatte, nun umso fester an das Deutsche Reich zu binden und künftige politische Alleingänge des Kaiserstaats schon im Ansatz zu unterbinden.

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Anmerkungen

41. Deutsche Politik 1, 1916, S. 1605.

42. Der Krieg und die amerikanische Politik, in: Deutschland Politik I, 1916, S. 493 f.

43. Österreich-Ungarn, der Waffengefährte Deutschlands, Berlin 1917, in: Naumann, Werke 2, S. 868.

44. Ebenda, S. 869.

45. Ebenda, S. 870.

46. Siehe insbesondere Friedrich Naumann, Was wird aus Polen, in: Ders., Werke Band 2, S. 901 ff.

47. Eintragung vom 22. 111916, in: Riezler, Tagebücher, S. 382, Nr. 685.