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'Konsequenzen für Europa im Geographieunterricht'
 
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Konsequenzen für Europa im Geographieunterricht

So schwankt der Europabegriff in Abhängigkeit von den Kriterien räumlich zwischen den Extremen eines regional begrenzten Klein-Europas und einer Ausweitung ins Globale. Das kontinentale Europa der Schulgeographie und die auf Erweiterung angelegte Europäische Gemeinschaft liegen dazwischen. In welchem Verhältnis stehen die verschiedenen Europas zueinander? Bestimmt das kontinentale Europa die Finalität des politischen Projekts? Soll dieses also im Osten bis zum Ural gehen, wodurch Sibirien wie früher einen Sonderstatus bekäme (vgl. Bassin 2002), oder soll es bis zum Pazifik, vielleicht sogar darüber hinaus reichen? Und wenn nicht: Macht seine Ostgrenze schon an der Ostgrenze Polens halt, oder schließt es noch Belarus und/oder nur die Ukraine mit ein? Und wenn letzteres nicht, wo bleiben dann die Bewohner der West-Ukraine, die sich emphatisch zu Europa bekennen? „Euro-päer sein, das heißt hier: kein Russe sein. Es heißt: ein Individuum sein, Verantwortung übernehmen, für seine Rechte eintreten – Eigenschaften, so die feste Überzeugung der Menschen im Westen der Ukraine, die die Russen nicht haben“ (Ignatieff 1994: 158). Wie also soll der Geographieunterricht mit Europas Grenzen umgehen?

Europa in der Karikatur – ein beliebtes Thema der Kartographie des 19. Jahrhunderts. Hier: Carte humoristique de l’Europe, um 1871/72


(Quelle: pagesperso-orange.fr/arkham/thucydide/lycee/premiere/nationalisme/nationalismes.html)

Schaut man sich in der didaktischen Literatur zu dieser Frage um, so stellt man fest, dass einerseits zwar die Pluralität des Europabegriffs und die Bedeutung dieser Pluralität für die Europaerziehung betont wird – „Wesen und Grenzen Europas werden verschieden aufgefaßt“ (Friese 1981: 106) –, dass aber hinter dieser Vielfalt der Begriff des „gesamten Europas“, d.h. des „geographischen Europas“ mit seinen Naturverhältnissen steht: „Spätestens in den Klassenstufen 7/8 sollten die Schüler ein räumlich geschlossenes [!] Bild von der Vielgestaltigkeit der Naturräume Europas und der Lebensverhältnisse gewonnen haben“ (Kirchberg: 1990: 228).

In diesem Sinne kennen auch Hannelore Iffert et al. nur einen „richtigen“ Europabegriff, den geographischen. Die „Kenntnis der auf dem Heimatkontinent liegenden Länder“, die zum „Verständnis der in diesem dicht besiedelten Erdteil vor sich gehenden Entwicklungen“ erforderlich sei, werde „erschwert durch die weit verbreitete unterschiedliche und z.T. direkt falsche Benutzung des Begriffes ‘Europa’.“ Die Identifizierung „‘Europas’“ mit dem Begriff der „‘Europäischen Union’“ durch Politiker und Journalisten müsse „in Hinblick auf die Entwicklung geographisch-topographischer Vorstellungen bei Jugendlichen Verwirrung stiften.“ Ja, selbst Schulbücher trügen dazu bei, indem sie z.B. „die osteuropäischen Länder aus Europa“ (1995/I: 22) ausklammerten. So lagen die von den Autoren befragten 7. und 10. Klassen Berlins und Brandenburgs „falsch“, wenn sie Russland bzw. die Türkei ganz oder gar nicht zu Europa rechneten. Bei Russland waren es in Berlin 37, bei der Türkei 39%, wobei die Klassen im Ostteil der Stadt Russland häufiger „richtig“ zuordneten als die im West-Teil, die dafür bei der Türkei besser lagen. Folglich hätte der Geographieunterricht das geographische Europa fest in den Köpfen der Schüler/innen zu verankern, um „falsche“ Zuordnungen zu vermeiden. Staaten jenseits seiner Grenzen „gehören“ nicht dazu, mögen sie auch, wie ein Vertreter Kirgistans auf einer Berliner Tagung, davon „träumen (...), Teil Europas zu sein“ (Scheithauer 1999).

Dagegen lehnt Friedhelm Frank die übliche „formal-topographische Abgrenzung“ ab und löst Europa „theoretisch“ in so viele Europas auf, „wie es Merkmale gibt, die als charakteristisch gelten“ (1991a: 8). Auch Hartwich Haubrich löst sich von der Vorstellung einer „absoluten Begrenzung“ Europas „am Ural, am Bosporus oder am Mittelmeer“. Sein Europa ist „kein ausgrenzendes Europa mit einem klar definierten Gebiet, sondern (...) ein offenes System“, das je nach Funktion „unterschiedliche ‘Regionen’ umfassen kann.“ (1997: 2). Doch abgesehen davon, dass die Formulierung „ein System“ missverständlich ist, weil sich hinter dem Etikett „Europa“ verschiedene und keineswegs deckungsgleiche Systeme verbergen, bleibt auch Haubrichs als „elegant“ (Köck 2000: 26) empfundener Lösung die Frage der Begrenzung nicht erspart, da zu jedem System notwendigerweise eine Umwelt gehört, sonst wäre es kein System. Mit der Festlegung, Europa sei ein „offenes“ System, lässt sich die Türkei-Frage jedenfalls nicht sinnvoll beantworten. So mögen Schulbücher zwar ein „Europa ohne trennende Grenzen“ (MuR/GEB7 1997: 116) feiern, doch sollte nicht verschwiegen werden, dass dieses ‘grenzenlose’ Europa mit einer Abschottung nach außen verbunden ist, die Karikaturisten immer wieder zu Festungs-Bildern inspiriert.

Die jüngste Äußerung zur Europa-Problematik stammt von Heinz Fassmann. Auch er rät dem Geographieunterricht, sich angesichts der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit Europas „von der statischen und naturhaften Betrachtung eines festen Europas zwischen Atlantik und Ural [zu] lösen.“ Würden dennoch „in den Schulbüchern klare und eindeutige Abgrenzungen angeboten“, so „sollte man den Schülern auch sagen, dass diese gesellschaftlich produziert wurden und dass es viele unterschiedliche Abgrenzungen gibt.“ Europa sei „nur prozesshaft und politisch zu verstehen“ (2003: 36).

Regionale Vorstellungen und Identitäten verbinden sich auch mit Le-bensgewohnheiten der Menschen Euro-pas. Ein Beispiel sind die Backwaren, die als Identifikationsmerkmal der Völ-ker Europas dienen.





(Quelle: HuW-B7 1999, S. 11)

Dem schließt sich der vorliegende Beitrag an! Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Sie werden in Diskursen verankert, stabilisiert und tradiert oder auch in Frage gestellt und wieder zurückgenommen und sind mit sozialen Praktiken verbunden, die auf diese Diskurse verweisen. Folglich sollten die Räume nicht wie feststehende Entitäten behandelt werden, welche die geographischen Curricula strukturieren, sondern als selektive Muster der Weltwahrnehmung, die auf ihre Konstruktionsbedingungen, auf die Geschichte ihrer Kommunikationsweisen und auf die an diese Wahrnehmungsmuster anknüpfenden Handlungen befragt werden (vgl. Miggelbrink 2002). Dabei sollte mit dem Soziologen Erhard Stölting klar sein, dass Identität und Alterität zusammengehören. Ein selbstreferentielles Verstehen Europas (wie jeden anderen Raumes) ist unmöglich: „Ohne die Erfahrung des anderen, der Nicht-Europäer, wäre eine europäische Identität nicht denkbar“, wobei sich mit der Veränderung der Kulturen „auch die Fremd- und Selbstidentifikationen verändern“ (2001: 158). Fremde Welten dienten und dienen als Schreckbilder, um Europas Exklusivität zu feiern, oder als Wunschbilder, um die heimischen Verhältnisse zu kritisieren. Davon erfahren die Schüler/innen in ihren Geographie-Lehrbüchern nichts.

Aber auch die heute gängigen „Großräume“ Europas drängen sich nicht von selbst auf. Zum Sechser-Schema hat es die verschiedensten Alternativen gegeben (vgl. Schultz 1997); jede hatte ihre Zeit, keine war „falsch“ oder „richtig“. Die nachfolgende Abbildung „Europas Großräume“ bietet auf der Basis der heutigen Staatengrenzen fiktive Gliederungsvarianten an. Keine stimmt mit der gängigen überein, so dass die Schüler/innen bei der Suche nach der „richtige“ Gliederung verunsichert werden und sich damit die Gelegenheit bietet, die gesellschaftliche Dimension räumlicher Verortungen zu diskutieren. Äußerungen wie jüngst die des rumänischen Staatspräsidenten Iliescu, der „Südosteuropa“ den Kaukasusländern vorbehalten wissen will, weil nur sie „wirklich [!] im Südosten des Kontinents“ lägen, während „der richtige Begriff“ für den bislang so bezeichneten Raum „Mittel-Süd-Europa“ (Schwarz 2001: 4) sei, müssten dann nicht als „falsch“ zurückgewiesen werden, weil es keine „richtigen Welten“ mehr gibt, sondern nur noch diskursive Strategien, die bestimmten Zwecken dienen (zur Türkei vgl. Lossau 2001: 135ff.). Welches Europa ist das „richtige“?

„Europas Großräume“ in fiktiven Varianten















(Entwurf: H.-D. Schultz, Kartographie: G. Schilling)

Mit der Pluralisierung Europas wird natürlich das „Europabewusstsein“ (Geiger 1997: 11), das der Geographieunterricht erzeugen soll, zum Problem. Zwar sprechen Schulgeographen gerne von einer Erziehung zur territorialen Identität, die sie sich nach dem Prinzip der konzentrischen Kreise vorstellen, obwohl der diffuse Begriff der Identität kein räumliches Phänomen, sondern ein soziales ist. Doch welches Europa soll es denn sein, das den Schüler/innen zur „Heimat Europa“ (MuR/GE/B7 1997: 116; Herv. i.O.) werden soll, und welche Merkmale stiften seine Identität? Die räumliche Spannweite der Faktoren ist groß und umfasst im Extremfall die ganze Welt; das zeigen gerade die so gern für typisch europäisch gehaltenen universalen Orientierungen, wie Christentum, Rationalität, Menschenrechte, Toleranz, Demokratie und Rechtsstaat. Doch der Versuch, über sie eine europäische Identität zu konstruieren, führt unweigerlich zu einem Dilemma: „Das Streben (...) [danach] ist entweder ein europäisches Spezifikum, dann aber lassen sie sich außerhalb Europas nicht einfordern; oder es ist weiterhin universalistisch, dann taugt es nicht zum Aufbau einer regionalen Identität“ (Stölting 2001: 167).

Der perfekte Europäer – Oder: gibt es eine europäische Identität? Die Frage ist ein beliebtes Motiv für Karikaturisten (hier von Charilaos Christopoulos)



(Quelle: etro.vub.ac.be/members/christopoulos.charilaos/welcome.html, 23.03.2004)

Doch einmal unterstellt, es wäre geklärt, was „europäische Identität“ meint, so bliebe die Frage, wie sich Mündigkeitserziehung und interkultureller Dialog, die auch vom Geographieunterricht erwartet werden, mit der Erzeugung eines politisch korrekten „Europabewusstseins“ (vgl. Stöber 2002: 38; Schultz 2001: 190ff.) vertragen. Die geschmeidige (Leer-)Formel von der „Vielheit in der Einheit“, mit der Differentes harmonisiert und zugleich bewahrt werden soll, macht vergessen, dass im Namen von Vielheit und Identität noch jüngst in Europa Krieg geführt wurde. Identitätserziehung schließt ein und aus; eine essentialistische Emotionalisierung Europas verstärkt das Gefühl der Besonderheit der Inkludierten gegenüber den Exkludierten und erschwert den Dialog mit den anderen, die nur noch als geschlossenes Kollektiv wahrgenommen werden, obwohl sie eine nicht minder große Vielfalt wie Europa bergen. Kolbs Versicherung, das Konzept des „Abendlandes“ wolle die akademische Jugend „nicht zu einem Erdteilchauvinismus an Stelle des nationalen Chauvinismus (...) erziehen“, überzeugt nicht, weil schon der Entstehungskontext die Beteuerung, es sei „unbeeinflußt von Interessengedanken“ (1957: o.S.), widerlegt. Ganz ähnlich hielt auch die klassische Länderkunde die nationale Aufladung von Erdraumindividuen für unpolitisch.

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