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'Europa als „eigener Erdteil“'
 
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Europa als „eigener Erdteil“

Trotz seiner breiten Landverbindung mit Asien gilt Europa jedoch in den untersuchten Geographiebüchern als Ausnahmekontinent. „Kein anderer Erdteil“, so rühmt ein Buch, weise „eine so hohe durchschnittliche Bevölkerungsdichte auf“, sei „so stark durch Inseln und Halbinseln gegliedert“ und zeige „eine so geringe durchschnittliche Meereshöhe“. Auch lägen bei keinem „so viele Orte so nahe am Meer“, und seine Oberflächenformen – „Hochgebirge, Mittelgebirge und Hügelländer“ – seien „besonders vielgestaltig“ und gliederten ihn „in zahlreiche natürliche Teilräume.“ Der Auftrag an die Schüler/innen lautet: „Begründe mit Hilfe einer Atlaskarte: die Oberflächenformen Europas sind besonders vielgestaltig“ (T 1991: 6).

Europa im Satellitenbild – eine beliebte Präsentationsform in Geographiebüchern, um die Besonderheiten des Kontinents hervorzuheben.





(Quelle: www.esa.int/esaCP/SEMHQYR1VED_index_0.html)

Der Eurozentrismus dieser Ausführungen ist kaum zu übersehen und wird in einem anderen Band derselben Reihe noch zugespitzt: „Jeden Kontinent erkennt man an seiner Gestalt. Sie ist besonders [!] bei Europa unverwechselbar. Das zeigt schon die Aufnahme aus dem Weltraum“ (T/B7 1994: 5). Sie kann es aber gar nicht zeigen, weil Aufnahmen der anderen Konti-nente zum Vergleich fehlen. Doch selbst wenn dies nicht der Fall wäre, bliebe die Behauptung von der Einmaligkeit der Gestalt Europas problematisch, da implizit mitschwingt, dass die Gestalt der anderen Kontinente defizitär ist. So wird z.B. Afrika in einem Schulbuch noch immer als „ein plumper [!] Kontinent mit verhältnismäßig wenig Halbinseln und Buchten“ (HuW/3 1991: 22) eingeführt. Vor diesem Hintergrund kann Europas Konfiguration leicht als Maßstab für den Grad des Abstands der anderen Kontinente von der europäischen Bestform missverstanden werden.

Selbst in mnemotechnischer Hinsicht wirkt sich die „starke Gliederung“ Europas aus. So fühlt sich ein Schulbuchautor (in Fortsetzung einer langen Tradition) animiert, in die Umrisslinien von Italien einen Stiefel mit Schaft und Absatz, von Norwegen/Schweden/Finnland einen Hund mit Nase, Pfoten und Auge und von Frankreich ein Gesicht mit Auge, roten Lippen und Franzosenmütze einzuzeichnen. „Welche Länder verbergen sich hinter dem Stiefel, dem Hund und dem Kopf?“ „Weitere Formen“ werden der „Phantasie“ (HuW/B7 1999: 12) der Schüler/innen überlassen. Für andere Kontinente ist eine ähnliche Spielerei nicht bekannt!

Der Leo Belgicus – Arabeske karto-graphischer Darstellung aus dem 17. Jahr-hundert. (Joh. Visscher, Amsterdam 1648)







(Quelle: www.mapforum.com/12/12curio.htm)

Neben der physischen Gestalt werden noch die „gemeinsame Geschichte“ der „Völker“ Europas und das Christentum als identitätsstiftende Besonderheit präsentiert (G/B7 1998: 6) (8 [1] ), auch hätten sich in Europa, obwohl mit Asien verbunden, „seit einigen tausend [!] Jahren eigenständige Kulturen mit vielen Sprachen und Lebensweisen“ entfaltet, was ignoriert, dass es anderswo ebenfalls viele (ja noch mehr) Sprachen und Lebensweisen gibt. Und weiter geht die Eloge: „Viele Bereiche von Wissenschaft und Technik wurden hier entwickelt. Von hier aus erfolgte die Erforschung großer Teile der Erde.“ Immerhin wird eingeschränkt, dass letztere „oft Unterdrückung und Krieg nach sich“ (G2 1993: 6) gezogen habe. In der späteren Berlin-Ausgabe fehlt dieser Hinweis. Jetzt heißt es nur noch: „Von Europa aus erfolgten die Erforschung der Erde und die Ausbreitung der europäischen Kultur, sodass man von der ‘Europäisierung der Welt’ spricht“ (G/B7 1998: 6). Europas Leistungen werden gefeiert; was an Entwicklungen von außen angestoßen wurde und was Europa sich selbst und den anderen Kontinenten an Zerstörungen zugefügt hat, wird vernachlässigt oder verschwiegen. Selbst die Kolonialherrschaft kriegt den Anstrich einer Belohnung für diese Leistungen: „Von Europa aus wurde die Erde in allen ihren Teilen ‘entdeckt’ und wissenschaftlich erforscht. Kein Wunder [!] also, daß einige Staaten Europas bestrebt waren, ihre Macht auf andere Teile der Erde auszudehnen“ (EK/Bay7 1991: 11).

Der schon zitierte Oberstufenband weist ähnliche Defizite auf. Die Merkmale der europäischen Identität (die Überlieferungen der griechisch-römischen Antike, Christentum, Kunst, Naturwissenschaft und Technik sowie die industrielle Revolution) werden dort „Außenstehenden, d.h. Nichteuropäern“ als Definition Europas untergeschoben, um umso glaubwürdiger zu erscheinen; sie hätten damit „weniger Schwierigkeiten“ als die Europäer selbst, denen, „historisch bedingt“, ein „‘europäisches Bewußtsein’“ fehle (MuR/GEu 1995: 13). Dass z.B. die moderne Wissenschaft der islamischen Wissenschaft des Mittelalters viel verdankt, u.a. das Experiment, bleibt unerwähnt. Damit folgen auch die Geographiebücher sowohl gegenüber der europäischen Geschichte (vgl. Fassmann 2002: 32) als auch gegenüber Europas Verhältnis zu den anderen Kontinenten einem Trend der „Gedächtnislosigkeit“: „Das übernationale Europa der Mächtigen (...) schreibt seine Geschichte zur Heiligenvita um. (...) Gereinigt von allen Verbrechen, wird Europa zum Synonym für Demokratie, Toleranz und Menschenwürde umgelogen“ (Gauß 1997: 202f.).

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