French
German
 
Seite zur Sammlung hinzufügen
'Die Problematik und die Ziele'
 
1 Seite(n) in der Sammlung
 
 
 
 
 

Die Probleme und die Ziele

Europa als Unterrichtsmaterie bleibt ein schulisches Thema, das von den nationalen Institutionen erarbeitet und umgesetzt wird. Die Wahrnehmung der Lehrerausbildung als Schmelztiegel des nationalen Aufbaus ist nicht von heute auf morgen aufgegeben worden. Nichts ist stärker in den regionalen oder nationalen Kulturen verankert als Bildung und Ausbildung, und unsere Länder können ihre Wurzeln nicht verleugnen. Unter diesen Bedingungen und unter Berücksichtigung der großen Unterschiede zwischen den Bildungssystemen wird die grundlegende These des Delors-Berichts [1] von 1996 verständlich: Bildung und Ausbildung sind eine Utopie! Auch das UNESCO-Programm, zum gleichen Zeitpunkt entstanden, erscheint utopisch ehrgeizig: Zusammenleben Lernen – Lernen mit anderen zu leben.

Ebenfalls 1996 hat Vaclav Havel [2] in seiner Aachener Rede in Erinnerung gerufen, dass die Weiterentwicklung der Bildung in Europa die Existenz neuer Antagonismen berücksichtigen muss, deren Träger die Länder Mittel- und Osteuropas sind, und dass der Aufbau einer europäischen Identität ein neues Zusammenspiel der menschlichen Beziehungen erfordert, den Willen und die Fähigkeit, Urteile und Vorurteile aus ihrer historischen Verwurzelung zu lösen, ohne die erforderlichen Mittel und ihre Anwendung zu vergessen. Andere kritische Überlegungen haben zugleich unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass die offiziellen Verlautbarungen Einwanderer und Flüchtlinge in dem Prozess des Aufbaus einer europäischen Identität ausblenden. Dieser Schritt birgt somit das fürchterliche Risiko, das jeder Prozess des Zusammenschlusses mit sich bringt: einen gleichzeitigen Prozess des Ausschlusses.

Václav Havel (rechts), Präsident der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, trifft Jacques Delors (links), Präsident der Europäischen Kommission in Brüssel (19/03/1991). 1996 äußert sich Havel in Aachen klar zur Rolle der Bildung im Aufbau Europas.

(Quelle: europa.eu.int/comm/mediatheque/photo/select/enlargczech_fr.html, inaktiv, 15.09.2004)

Die Schule hat Schwierigkeiten, Schritt zu halten. Der Lehrer nimmt die Neuausrichtung seiner Rolle kaum wahr. Er spürt sehr wohl, dass Europa keine Merkmale der natürlichen und historischen Realitäten hat, mit denen er sich normalerweise auseinandersetzt, sondern dass es Ergebnis eines jüngeren Voluntarismus ist. Wie soll er unter den Bedingungen, mit denen er konfrontiert wird, von einer Geschichte Europas berichten, die weder ein Nebeneinander von Nationalgeschichten noch eine ideologische Rekonstruktion ist, die post festum durch politische Imperative diktiert wird? Wie wird er an das Thema herangehen, um eine Zugehörigkeit verständlich zu machen, die für ihn selbst zunächst allgemein abstrakt ist, und wie diese seinen Schülern vermitteln?

Sicher, er versteht rasch, dass es zunächst angebracht ist, die Austäusche zwischen den verschiedenen Bildungssystemen zu fördern, dass dieser Schritt auch ein Nachdenken über die Curricula impliziert, jenes der Fremdsprachen, deren kommunikative Funktion gestärkt werden muss (die Studien des Europarates [3] werden ihm dabei behilflich sein), auch jene der Geschichte, der Geographie, insbesondere der Literatur, deren ethnozentrischer Ansatz verringert werden muss. Jedoch hat er insbesondere Schwierigkeiten den Gegenstand des Interkulturellen zu erfassen, dieses spezifische Moment, das sich von der Beherrschung der Sprache unterscheidet, die sein pädagogisches Bezugssystem bleibt. Wie wird er das wesentliche schulische Ziel eines kritischen und bewussten Unterrichts erreichen, in dem die Realität des Gegenstands Europa eingeführt und verständlich gemacht werden soll und weniger sein Mythos und alle Zweideutigkeiten, die mit dieser Realität einhergehen? Über Europa sprechen, gewiss, aber mit welchen Zielen, unter Anwendung welcher Methoden? Und dann, über welches Europa? Ein geographisches, historisches, politisches, soziologisches Europa, das Europa der Europäischen Union, das künftige, stärker nach Osten ausgerichtete Europa?

Er spürt durchaus, dass sein Unterrichtsgegenstand ein authentisches Europa sein muss, das heißt ein durchdachtes, und gleichzeitig ist er sich darüber bewusst, dass der ganze Sinn der schulischen Kenntnisse in Frage gestellt wird. Er muss Kontroversen in einem ungewöhnlichen, aber notwendigen Ausmaß bewältigen und kann sich nicht länger auf die beruhigende Tradition einer Vulgata stützen, die zum Prinzip erhebt, eine gemeinsame Kultur werde durch vermeintlich allseits geteilte Kenntnisse garantiert. Auf welche Weise können diese Kenntnisse künftig eine Hilfe sein, um sich als Subjekt einer Gemeinschaft zu verstehen, in seinen Beziehungen zu den anderen, zu der sozialen Welt? Wie können sie helfen, eine individuelle und zugleich kollektive Identität aufzubauen, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft zu entwickeln ? Noch dazu findet eine höchst persönliche Veränderung statt: Er wird sich bewusst, dass es nicht mehr ein "Wissen über" ist, das er wird teilen müssen, sondern ein "Wissen von Innen heraus": Er muss sich künftig im Zentrum dessen einrichten, was er lernt. Vielleicht lässt ihm sogar in seinem Innersten die Behauptung von J. Attali keine Ruhe: "Man unterrichtet sich, man kann nicht den Anderen unterrichten!".

Anteil der Bildungsausgaben im PIB in der Europäischen Union




(Quelle: sites.uclouvain.be/actualites/ra0203/alloc-viseur.html)

Von ihm wird verlangt, Staatsbürger zu erziehen, aber nicht solche, für die er ausgebildet worden ist. So ergibt sich für ihn das Problem, wie er den Begriff der europäischen Staatsbürgerschaft darstellen soll, und er bemerkt rasch, dass dieser sehr weit von der fundierten Vorstellung entfernt ist, die er von der nationalen Zugehörigkeit hat. Zwar kann ihm die historische Perspektive von gewissem Nutzen sein, aber sie löst in keiner Weise die Spannungen auf, die er bewältigen muss. Und auch die Gegenwart bietet ihm nur wenige positive Bezugspunkte. Seine Herangehensweise an eine Realität, die keinerlei Symbolik besitzt (es gibt keine europäische Vorstellungswelt!) kann nur kognitiv, sie kann nicht emotional sein, und er kann, zumindest in einer Anfangsphase, nur eine Analyse der konkreten Probleme, die mit der Staatsbürgerschaft verknüpft sind, ins Auge fassen. Die jungen Leute, die wir vorhin befragten, haben nichts anderes gesagt.

Allein die Ziele sind enorm. Natürlich weiß man, dass eine Politik der Identität notwendigerweise eine Bildungspolitik voraussetzt. In der Schule müssen grundsätzliche Begriffe diskutiert werden wie die Beziehungen zwischen Staatsbürgerschaft und Identität, Segregation, Assimilation und Integration, Ethnozentrismus und kultureller Relativismus, Vorurteile und Stereotypen, interkulturelle Bildung. In der Schule wird die Spannung verringert werden müssen zwischen europäischem Traum und Realität, wird der utopische Idealismus relativiert werden müssen, mit dem sich einige Verantwortliche zuweilen zufrieden geben. Auch wenn dies zweifellos zunächst über eine Bearbeitung der Gründe des europäischen Integrationsprozesses, über seine Entstehung und seine Perspektiven erfolgt, bleibt doch alles oder fast alles neu zu entwickeln.

Als Bologna-Prozess wird die Umstrukturierung des europäischen Hochschulraumes verstanden, der den Hochschulbesuch innerhalb der Mitgliedsländer der EU durchlässiger gestaltet. Gemäß einer Befragung im April 2003 wird dieser Prozess von einer großen Mehrheit der Studierenden (83%) positiv bewertet.


(Quelle: his.de/News/Service/Publikationen/Presse/pm-hisbus6, inaktiv, 02.06.2006)

Die Geschichte Europas erscheint wie ein kollektives Abenteuer, dessen Ausgang ungewiss ist. Es muss eine neue Didaktik entwickelt werden, die ein Gefühl der Vertrautheit mit dem Gegenstand Europa in der Schule und von der Schule ausgehend aufbauen sollte. Der Lehrer wird in der Pädagogik mehr wagen müssen, Vielfalt und Vielschichtigkeit, die, nebenbei gesagt, nichts mit dem touristisch-kulturellen Ansatz zu tun hat, der noch hier und da zum Einsatz kommt. Es gilt eine neue konzeptuelle Herangehensweise an unsere soziale Wirklichkeit in Erwägung zu ziehen, die auf zwei "Neuheiten" beruht: Jede Identität ist heute eine pluralistische Identität; jede Einheit ist das Ergebnis eines Prozesses, also stets im Werden, immer in Bewegung.

Urkunde der Bergschule St. Elisabeth in Heiligenstadt (Thüringen) aus Anlass ihrer Umwidmung zu einer Europa-Schule.
Immer mehr Schulen in Europa wird die Bezeichnung Europaschule verliehen. Dies soll gleichermaßen als Anerkennung und als Stimulation von Europa-Aktivitäten in den Schulen dienen, ihnen aber auch die Verpflichtung und Verantwortung auferlegen, die europäische Dimension im Unterricht oder in anderen schulischen Unternehmungen zu fördern.







(Quelle: bergschule-st-elisabeth.de/gym/wws/gesch.htm, inaktiv, 02.06.2006)

Die Verantwortung der Schule besteht folglich darin, auf die Erfahrung der Vielfalt unter der Perspektive der Einheit vorzubereiten, den Europa-Begriff und die realen Bestandteile, aus denen sich seine Komplexität ergibt, zu bearbeiten. Dabei muss sie es sich vor allem zur Pflicht machen, kein idyllisches Modell multikulturellen Miteinanders zu präsentieren, denn die Auseinandersetzung zwischen den Kulturen ist Bestandteil jedes historischen Prozesses, erst durch Ignoranz und Vorurteile wird sie gefährlich. Serge Bernstein ist sich bewusst, dass die europäische Staatsbürgerschaft aus dem Hervortreten einer europäischen Erinnerungskultur und einer europäischen Geschichte entsteht und diese zugleich ermöglicht. Und er schreibt an die Adresse der Historiker: "Wir müssen die Schaffung einer europäischen Identität in Angriff nehmen". J.P. Rioux antwortet mit dem Hinweis auf "eine Geschichte, deren Besonderheit in Anleihen besteht, Kontakten, Gräben und Auseinandersetzungen, Erfindungen und Übermittlungen, Aufteilung und Expansion, Mythen und Utopie, Bevölkerungsbewegungen und inner- und außereuropäischen Beziehungen, eine Geschichte der Beziehungen zum Anderen". So erinnert er daran, dass aufgrund der Beziehung zu dem Anderen und zu den Anderen ein staatsbürgerliches Bewusstsein entstehen kann. Daher wird der Austausch besser als jeder andere Prozess ermöglichen, über ein Zusammenleben nachzudenken, um den Versuch zu unternehmen, ein Zusammen-Sein aufzubauen.