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'Thesen zum Zusammenhang von"Europäischer Integration" und Geschichtslernen'
 
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Thesen zum Zusammenhang von "Europäischer Integration" und Geschichtslernen

Erstens: Das Fach "Geschichte" hat schon immer den Orientierungsaufgaben der Gegenwart gedient. Erkenntnislogisch kann es auch nicht anders sein. Die Gegenwarts- und Zukunftsbezogenheit der Geschichte und die Indienstnahme der öffentlichen Geschichtsunterweisung durch die Mächtigen (die "politische Klasse") kann man ideologisch-affirmativ (z. B. Weniger 4 1969) sehen oder ideologiekritisch-reflexiv (z.B. Bergmann 1975). Sie kann also als legitim und unabwendbar bejaht (Weniger) oder als Übel bekämpft und begrenzt werden (Bergmann). Für historisch-politische Urteile bleibt in der pluralistischen Demokratie nur der mündige Bürger/die mündige Bürgerin (übrigens auch der mündige Gast!) als zuständige Instanz übrig. Das gilt - wenn schon nicht in jedem Einzelschritt auf jeder Altersstufe - jedenfalls im Sinne einer regulativen Klausel, eines obersten Prinzips.

Zweitens: Die "Europäisierung" auf allen Ebenen des öffentlichen und privaten Lebens ist ein Faktum (und ein Orientierungsproblem), auf das reagiert werden muss. Die tatsächliche Angleichung der Lebensverhältnisse und die Freizügigkeit im Alltag (Währung, Grenzkontrollen, Examensanerkennung, Niederlassungsfreiheit) haben für Westeuropa ein Ausmaß erreicht, das man sich vor sechzig Jahren kaum vorstellen konnte. Der "vor-gemeineuropäische" Zustand ist damit aber auch heutigen Jugendlichen gar nicht mehr leicht vermittelbar, überhaupt nur "historisch" zu überliefern und verständlich zu machen. Man soll sich nicht täuschen, wie rasch solche Zustände aus dem "kommunikativen Gedächtnis" entschwinden. Vertragsgeschichte und Institutionalisierung "Europas" dagegen haben sich als ausgesprochen langweiliges und frustrierendes Thema erwiesen. Die "Europäisierung" ist zugleich zutiefst uneindeutig und umstritten und schon gar ganz unfertig. Mit anderen Worten: Sie ist mehr ein politisches als ein historisches Thema, was natürlich überhaupt nicht gegen curriculare Konsequenzen für das Fach Geschichte spricht.

Die Entdeckung Amerikas (1492), des Seewegs nach Indien (1498) oder die Weltumsegelung Magellans (1519 – 1521) bedeuten in gewissem Sinne den Beginn der Globalisierung. Seitdem durchdrangen die Europäer fast den gesamten Erdball und trugen ihre Vorstellungen von Zivilisation, Kultur, Wirtschaft und Politik mehr oder weniger gewaltsam in die ganze Welt (Quelle: www.floridahistory.com/magellan.html).

Drittens: Die "Europäisierung" lässt sich nicht von anderen Orientierungsaufgaben trennen, jedenfalls nicht isolieren und verabsolutieren ("Globalisierung", "Massenmigration", "inter- und subkulturelle Pluralisierung"). Die "Globalisierung" hat natürlich schon um 1500 mit Kolumbus, Vasco da Gama und Magellan begonnen. Das Welthandelssystem des 17. und 18. Jahrhunderts, die Telegrafenleitungen des 19. und die Weltkriege des 20. Jahrhunderts symbolisieren weitere Schritte eines nach Rhythmen, Räumen und Sektoren höchst komplizierten Prozesses des Zusammenwachsens (ohne dass den genannten Beispielen dadurch schon eine besondere Schlüsselbedeutung im Curriculum zugesprochen werden soll). Außerdem heißt Globalisierung Vernetzung und Interdependenz, jedoch keineswegs Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit. Die entstehenden Parallelkulturen und Subkulturen, "Kolonien", Gettobildungen, Konflikte, "Unterschichtungen" werden - auch außerhalb rechtspopulistischer Hetze und rassistischer Ressentiments - teilweise als bedrohlich und verunsichernd wahrgenommen. Solche Erfahrungen sind jedoch keineswegs neu. Stark vergröbernd kann man wahrscheinlich sogar sagen, dass frühere Gesellschaften oft mit sehr hoher Inhomogenität umgehen mussten und konnten. Erst die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts mit ihren unterstellten Staatsnationen haben - recht künstlich und teilweise sehr konflikthaft - auf Einheitlichkeit und Totalloyalität ihrer Bevölkerungen bestanden. Umgekehrt kann das allerdings keineswegs heißen, die vormodernen interkulturellen Gesellschaften seien erfreulich konfliktfrei oder vorbildlich demokratisch organisiert gewesen. Sie zu studieren, heißt von ihnen lernen, nicht sie kopieren zu wollen.

Viertens: Europa wird - im Alltag der Menschen - in seiner Bedeutung grob unterschätzt und ist nicht besonders beliebt, aber auch nicht eigentlich verhasst. Das geht u. a. aus den oben vorgetragenen empirischen Befunden unter Jugendlichen zwingend hervor.

Fünftens: Die nationalstaatliche Identifikation hat sich als ausgesprochen stark und bleibend erwiesen. Die Nationsbildung kann eindeutig in fast jedem Fall rückblickend als relativ willkürlich ("kontingent") und nicht zwingend ("alternativenfähig") erwiesen werden (vgl. Irland gegen die Schweiz, Südslawien gegen Deutschland und Rumänien gegen Belgien). Die Kriterien "Sprache/Dialekt", "Religion/Konfession", "Kultur/Lebensweise", "Herrschaft/Dynastie" und "Geschichte/Staat" laufen einmal miteinander und einmal gegeneinander, sind einmal dominant und einmal marginal. Ebenso intensiv gilt die einmal getroffene Entscheidung dann aber, die einmal erfolgten Nationsbildungen kann man nicht mehr als beliebig oder veränderbar ansehen ("prospektive Festigkeit"). Mit einer Renationalisierung der Massen (und der Politik), genauer mit einem ausgesprochen engherzigen Alltags-Chauvinismus, muss weiterhin jederzeit gerechnet werden. Diese Perspektive ist durchaus für das Fach Geschichte lernrelevant, gerade wenn man nicht - wie oft geschehen - bei jedem politischen Problem dem Geschichtsunterricht die Verantwortung zuschieben will ("Haltet den Dieb - und verprügelt den Geschichtslehrer!".).

Die Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt 1848, ein Schlüsselereignis zur Bildung des deutschen Nationalstaats.




(Quelle: wsgn.euv-frankfurt-o.de/vc/pageD8.html, 22.11.2004)

 

 

Sechstens: Geschichte ist immer Konstruktion und bleibt stets umstritten, aber das bedeutet keine Beliebigkeit und keine Gleichwertigkeit aller Interpretationen. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene setzen gerne Vergangenheit und Geschichte gleich, unterscheiden also nicht zwischen vergangener Realität und sinnbildender Erzählung darüber (eben "Historie"). Nur dass sie der "maßstabsverkleinerten, quasi-fotorealistischen Reportage" einen verminderten Wirklichkeitsgrad - und vermindertes Interesse - zuerkennen. Das ist erkenntnistheoretisch ein unglückliches Modell. Statt dessen ist Historie immer retrospektiv, blickt zurück, weiß nicht nur weniger, sondern auch mehr als die Zeitgenossen, z.B. wie es weiterging. Schon deswegen schreibt sich Geschichte nicht automatisch aus den Quellen, sondern wird bewusst und absichtsvoll synthetisiert. Die Quellen müssen "multiperspektivisch" gewählt und angeordnet werden, die Deutungen sind als "kontrovers" vorzustellen und zu behandeln, die möglichen Orientierungen als "pluralistisch" zu kennzeichnen und anzubieten. Aber gerade daraus folgt, dass Beliebigkeit zu vermeiden ist. Es gibt durchaus Qualitätsmaßstäbe. Keineswegs alle Interpretationen sind gleichwertig und gleich akzeptabel. An der Forderung nach wissenschaftlicher Zuverlässigkeit ist nichts abzumarkten; sie ist nicht durch "Multiperspektivität", "Kontroversität" und "Pluralität" zu ersetzen, sondern nur durch diese einzulösen. Das geschieht fast durchweg noch nicht, wird allenfalls behauptet. Wenn man aber strukturell und unausweichlich in einem interkulturellen Feld ("Globalisierung", "Europäisierung" und "Migration") arbeitet (und genau das tut der Geschichtsunterricht), dann wird das "Fremdverstehen", der "Perspektivenwechsel", die experimentelle "Rollenübernahme" sehr eindeutig zur entscheidenden Leistung.

Siebtens: Geschichte kann - reflexiv betrachtet - beim Europathema etwas zur Orientierung beitragen. Historie hat auch früher Stärkung und Entscheidungshilfe geliefert, allerdings meist bloß im Sinne eines großen "Tanks", aus dem Selbstsicherheit und Kraft bei der rücksichtslosen Durchsetzung der eigenen Gruppe geschöpft wird. Genau dieses Modell hat - jedenfalls im europäischen Kontext - keine besondere Überzeugungskraft mehr. Es ist intellektuell unredlich und nicht friedensdienlich. Also muss es durch einen reflexiv-selbstprüfenden Umgang mit Geschichte ersetzt werden, was - auch heute noch - eine Sisyphusarbeit darstellt.

Achtens: Ein einheitliches Geschichts-Schulbuch und Geschichts-Curriculum für ganz Europa ist keine Lösung. Der Versuch dazu wurde schon gemacht und ist vorerst - zu Recht - gescheitert. Das entsprechende "Europäische Geschichtsbuch" (Aldebert 1992) war zwar von Gelehrten aus zwölf Nationen geschrieben und abgestimmt, vernachlässigte aber völlig Osteuropa und war didaktisch-methodisch rückwärtsgewandt (vgl. z.B. v. Borries 1993).

Das europäische Geschichtsbuch, zwar von Gelehrten aus zwölf Nationen geschrieben und abgestimmt, jedoch vernachlässigt es völlig Osteuropa und ist didaktisch-methodisch rückwärtsgewandt.

Neuntens: Wer Europa sagt, muss auch Ost-West-Gefälle (West-Ost-Gefälle) sagen. Das heißt natürlich nicht, es gäbe nur zwei Europas, zwei geschlossene Blöcke. Vielmehr sind alle Übergangsformen und eine Fülle von schicksalhaften Grenzlinien festzustellen (z. B. Ostsee/Triest und Bug/Karpaten). Das gilt für die meisten historischen Betrachtungen; es gilt aber noch mehr für das frühere und heutige Gefühl der Menschen (Vorurteile und Ressentiments). Im Westen kümmert man sich nicht nennenswert um den Osten; Gleichgültigkeit und Überlegenheitsdünkel machen z. B. Austauschprogramme mit Polen und Russland (von Tschechien, Bulgarien und Rumänien zu schweigen) ungleich schwieriger als solche mit Frankreich und den USA. Im Osten fühlt man sich oft zugleich als - stets missverstandene - heroische Grenzwacht.

Zehntens: Für ein Überlegenheitsgefühl Europas gegenüber anderen Weltregionen gibt es keinerlei Grund. Genau eine solche Illusion kann aber - bei naiver Betrachtung von und normativer Identifikation mit "Europäisierung" - drohen. Bestehende kulturelle und ökonomische Unterschiede müssen im Wesentlichen historisch erklärt werden, nicht biologisch (vgl. Levi-Strauss 1972); nur ökologischen Bedingungen kann eine bescheidene Mitverursachung zugewiesen werden (vgl. Diamond 1999). Sonst landet man sehr schnell bei einem neuen ("kulturalistischen") Rassismus. Andererseits hat es keinen Sinn, offenbar vorhandene Unterschiede einfach zu leugnen. Sonst würde der zur Vordertür hinausgetriebene Rassismus ganz rasch durch die Hintertür wieder einwandern.

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