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'Die Aussaat – Facetten der globalen europäischen Kultur und Politik'
 
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Die Aussaat – Facetten der globalen europäischen Kultur und Politik

Einige wenige dieser Facetten sollen im Folgenden schlaglichtartig beleuchtet werden. Es handelt sich teils um solche Facetten, die das Gesamtbild besonders auffallend prägen, teils um jene, die Theorie und Praxis der Politik eine besondere europäische Färbung gegeben haben.

"Ich weiß, dass ich nichts weiß."

Die griechische Philosophie steht am Anfang des Konzepts, die Welt mittels der Vernunft zu verstehen, ebenso wie am Anfang der vernünftig begründeten Skepsis gegenüber diesem Versuch. In dieser Dialektik zwischen der Modellierung der Welt in rationalen Gedankensystemen und dem Wissen um die Grenzen des Wissens entsteht die Agenda, die die Philosophie bis in die Gegenwart beschäftigt. Vernünftige Aufklärung, Skepsis gegenüber ihren Möglichkeiten und das ironische Spiel mit beidem spiegelt sich in jenem über die Jahrtausende immer wieder zitierten Satz des Sokrates [1] .

Die Sokratesgruppe in Raffaëls "Philosophenschule von Athen" (Stanza della Segnatura, Vatikan). Sokrates (zweiter von rechts, hier im Gespräch mit Xenophon (Mitte) und Alkibiades (links)) prägte den immer wieder zitierten Ausspruch: "Scio nescio – ich weiß, dass ich nichts weiß".

(Quelle: home.t-online.de/home/henkaipan/athen.htm, inaktiv ,06.02.2005)

Der griechischen Philosophie verdanken wir die gerade in der modernen Erkenntnistheorie wieder entdeckte Einsicht, dass die Welt nicht identisch ist mit dem, was wir von ihr wahrnehmen. Platon [2] und Aristoteles [3] haben erste Theorien der Politik entwickelt, die bis in die Gegenwart wirken. Es mag überzogen sein, wenn der englische Mathematiker Whitehead [4] (1861–1947) sagte, die europäische Philosophie bestehe aus einer langen Reihe von Fußnoten zu Platon, aber gewiss hat die antike griechische Philosophie die Fundamente für die europäische Sicht der Welt gelegt.

"Senatus Populusque Romanus"

Weit über sein politisches Ende hinaus war und ist das Römische Reich ein Fixpunkt für die kulturelle Entwicklung und das politische Denken in Europa. "Renovatio Imperii Romanorum", Erneuerung des Römischen Reiches, stand auf dem Siegel Karls des Großen; der Kaiser des 1806 untergegangenen (Heiligen römischen, Anm. der Redaktion) deutschen Reiches hatte die Würde eines Römischen Kaisers; noch mehr als 1000 Jahre nach dem Untergang des alten Römischen Reiches war Latein im ganzen Kontinent die Sprache der Wissenschaft und der Gelehrsamkeit.

Das Capitol in Washington. Die Anklänge an Rom in der klassizistischen Architektur Washingtons sind unübersehbar."






(Quelle: www.mssv.net/images/capitol.jpg)

Bis heute basiert das moderne bürgerliche Recht im Kern auf dem römischen Recht, folgen viele Straßen den alten Fernverbindungen des Römischen Reichs. Die Anklänge an Rom in der klassizistischen Architektur Washingtons sind unübersehbar, und wer heute die USA als "Imperium" bezeichnet, benutzt bewusst oder unbewusst in dieser Analogie ein bestimmtes Deutungsmuster: die USA als das neue Rom.

"Gloria in excelsis Deo"

Schon im Römischen Reich verbanden sich Antike und Christentum zu einem Amalgam, ohne das die weitere Entwicklung des Konstrukts Europa nicht denkbar gewesen wäre. Vom Römischen Reich aus verbreitete sich das Christentum auf dem europäischen Kontinent und über ihn hinaus; fortan verstand sich Europa als christlich geprägt.

Gloria in excelsis deo (von Frank Mason). "Europa wäre in eine unzusammenhängende Vielfalt primitiv verfasster Stämme auseinandergefallen, wäre da nicht die einigende Kraft der Kirche gewesen."








(Quelle: www.artrenewal.org/asp/database/art.asp)

Dass auch Jahrhunderte nach dem Untergang des Römischen Reiches eine kulturelle Verbindung der Menschen auf dem Kontinent erhalten blieb, verdankt sich wesentlich diesem Amalgam: "Europa wäre in eine unzusammenhängende Vielfalt primitiv verfasster Stämme auseinandergefallen, wäre da nicht die einigende Kraft der Kirche gewesen und die fortdauernde Erinnerung an Rom" (Schulze 1994: 20). Durch das ganze Mittelalter hindurch bildete das Christentum den Kern dessen, was "Europa" ausmachte, bis die Renaissance die Brücken zur Antike wieder erneuerte.

"Hier stehe ich, ich kann nicht anders"

Das Christentum bescherte den Gläubigen freilich mit der Reformation [5] auch die Erfahrung einer schmerzhaften Spaltung, auch hier zunächst auf dem Kontinent und später weltweit. Zunächst waren die Folgen blutig, von den Bauernkriegen [6] bis zum 30 jährigen Krieg [7] , der ersten großen politischen Katastrophe in Europa nach dem Ende des Römischen Reichs. Aber die Reformation fügte dem Konstrukt Europa auch wichtige Facetten hinzu. Schon vorher war das Amalgam von römischer Reichsidee und christlicher Kirche in sich spannungsreich gewesen, weil es bei aller Rivalität und wechselseitigen Übergriffen weltliche und geistliche Herrschaft unterschied.

"Hier stehe ich und kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen" – ein Satz, den Luther so nie gesagt hat. Vielmehr rechtfertigte er sich auf dem Reichstag zu Worms mit dem Satz: "Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!"

(Quelle: www.luther.de/legenden/ws.html)

Mit der Reformation war nun aber zusätzlich die Vorstellung einer einheitlichen geistlichen Herrschaft hinfällig geworden, etablierten sich konkurrierende Glaubensüberzeugungen, deren Anhänger lernen mussten, miteinander auszukommen, wenn sie nicht gemeinsam untergehen wollten. Paradoxerweise hat die Reformation so langfristig die Trennung von Staat und Kirche gefördert, obwohl in den protestantischen Länder der Landesherr zugleich oberster Kirchenherr war. Weiterhin hat die Reformation das Individuum gegen die Kirchenhierarchie gestärkt, wie es pointiert in Luthers [8] berühmtem und oben zitierten Ausspruch vor dem Reichstag in Worms [9] zum Ausdruck kam, sowie besonders in der calvinistischen Ausprägung eine Arbeitsethik gefördert, in der Max Weber [10] rückblickend die mentale Voraussetzung für die Durchsetzung des Kapitalismus sah.

"L‘Etat c'est moi."

Dieses Zitat Ludwigs XIV. [11] gilt als Sinnbild des Absolutismus [12] , der auf das Desaster des 30jährigen Krieges folgte und mit dem der moderne Territorialstaat die Bühne der Politik betritt mit einer funktionsfähigen Bürokratie und dem Anspruch auf das Monopol der Gewaltanwendung. Der "Leviathan" (Thomas Hobbes [13] ) sollte den Frieden stiften und verlangte dafür Unterwerfung mit diesem Konzept wurde die Idee des modernen Staates erfunden, die in den folgenden Jahrhunderten ihren weltweiten Siegeszug antreten sollte.

"L'Etat c'est moi! – Der Staat bin ich" der wohl nachhaltigste Ausspruch Ludwigs des XIV. zur Charakterisierung des absolutistischen Königtums.












(Quelle: www.asn-ibk.ac.at/bildung/faecher/geschichte/maike/bilderkatalog/valois_f/abb4000c.htm)

Allerdings sollte es sich auch zeigen, dass die friedensstiftende Funktion des modernen Staates eine zweischneidige Angelegenheit sein würde dem Frieden nach innen sollte alsbald die Potenzierung der Gewalt nach außen, in Konflikten mit anderen Staaten, folgen. Nachdem sich das Konzept des Staates im 19. und 20. Jahrhundert noch mit dem der Nation verband, war geistig der Boden bereitet für die beiden Weltkriege, Europas zweiter großer politischer Katastrophe nach dem Ende des Römischen Reiches.

"Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten."

Rousseaus [14] Diktum artikulierte eine Grundüberzeugung der Aufklärung [15] : die von der natürlichen Freiheit des Menschen. In der europäischen Aufklärung verbindet sich eine neue Verselbständigung der Vernunft gegen jede, besonders auch gegen jede religiöse Autorität ("Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen", so Kants [16] "Wahlspruch der Aufklärung") mit der Idee des Naturrechts.

Jean-Jacques Rousseau prägte in einem seiner berühmten Werke, dem Contrat social, den Satz: "L'homme est né libre et partout il est dans les fers – Der Mensch ist frei geboren, und überall lebt er in Ketten."

(Quelle links: www.loc.gov/exhibits/world/nature.html,
Quelle rechts: www.bm-chambery.fr/services/expos/montagne2002/pages/xviiie2.htm, inaktiv, 02.06.2006)

Die Vorstellung von der Freiheit des Menschen, die schon im Christentum und in antiken Bürgerrechtskonzeptionen angelegt war, wird nun auf die Vernunft gegründet und zu einem universalen Konzept mit revolutionären politischen Folgen: Wird der Mensch als von Natur aus freies Individuum gedacht, liegt die Konsequenz der Republik als Staatsform auf der Hand. Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Naturrecht und Republik in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung [17] von 1776. Aber die Demokratie blieb nicht auf die Republik der europäischen Auswanderer in Übersee begrenzt, sondern setzte sich auf dem europäischen Kontinent über die schon frühere Glorious Revolution [18] in England und die Französische Revolution [19] durch. Im Grunde war auch diese Idee einer republikanischen Ordnung mit einer demokratischen Verfassung ein, wenn auch modifizierter, Rückgriff auf die Antike. Die Aufklärung hat diese Idee modernisiert und universalisiert, bis hin zum Modell einer globalen republikanischen Friedensordnung bei Kant.

"Und sie bewegt sich doch."

Galileis [20] leiser, trotziger Widerspruch ist zum Sinnbild für den Geist der neuzeitlichen Wissenschaft geworden. Befreit aus den Fesseln religiöser Vorgaben und gegründet auf den Glauben an die rationale Erkennbarkeit der Welt entstanden in Europa zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert die Naturwissenschaften. Schritt für Schritt schienen sie die Geheimnisse der wirklichen Welt zu entschlüsseln, Stein auf Stein ein Gebäude zu errichten, das nach seiner Vollendung das Wissen über die gesamte außermenschliche Wirklichkeit repräsentieren sollte.

"Und sie bewegt sich doch".
Galileo Galilei verfasste in den Jahren von 1626-1630 eine Abhandlung über das heliozentrische System, in dem er die Richtigkeit dieses Systems zu beweisen versuchte. Als das Buch 1632 erschien und ein großer Erfolg war, alarmierte dies die Inquisition, die das Buch sofort einziehen und verbieten ließ. Galilei wurde nach Rom zitiert und angeklagt. In dem Prozess im Jahr 1633 wurde Galilei gezwungen, dem heliozentrischen Weltbild öffentlich abzuschwören. Es ist nicht gesichert, ob Galilei wirklich gefoltert wurde und ob der berühmte Ausspruch "und sie bewegt sich doch" tatsächlich von ihm stammt.



(Quelle, Text: www.stern.de/wissenschaft/natur/index.html, inaktiv, 02.06.2006)

Noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts war besonders in der Physik die Vorstellung verbreitet, im Grunde gebe es kaum mehr lohnende Probleme für die Forschung, und von Max Planck wurde die Geschichte erzählt, er habe einem Studenten vom Studium der Physik abgeraten, weil in dieser Wissenschaft allenfalls noch Kleinigkeiten zu klären wären. Tempi passati im 20. Jahrhundert haben die Naturwissenschaften wieder lernen müssen, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, es könnte prinzipielle Grenzen der Erkenntnis der Wirklichkeit geben. Zunächst aber wirkten und wirken die Naturwissenschaften als Impulsgeber für die Technik und diese wiederum als Antriebskraft für die industrielle Wirtschaftsweise.

"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen."

Mit der Industrialisierung ging der Kapitalismus Hand in Hand und brachte mit dem Kommunismus seine Antithese hervor. Neben dem Nationalismus wurde er zu einem zweiten Religionsersatz mit fatalen politischen Folgen. Seine eschatologische Prägung gab ihm einen ausgeprägt offensiven Charakter und es ist wohl einer eigentümlichen Mixtur von amerikanischer Entschlossenheit, westeuropäischem Verhandlungsgeschick und Glück zu verdanken, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die europäischen Gesellschaften nicht in einem dritten Weltkrieg untergingen.

Das Kommunistische Manifest [21] wurde erstmals im Februar 1848 von Karl Marx [22] und Friedrich Engels [23] in London veröffentlicht. Es ist eine der einflussreichsten politischen Schriften der Geschichte. Das Manifest legt die kommunistischen Vorstellungen dar, die klassenlose Gesellschaft durch eine proletarische Revolution zur Überwindung des Kapitalismus zu erreichen.









(Quelle: www.dhm.de/sammlungen/plakate/p94_1550.html)

"Wir müssen so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa schaffen"

Winston Churchill [24] zog mit diesem Satz 1946 eine einfache und klare Konsequenz aus der Katastrophe der beiden Weltkriege. Sie war so neu nicht, denn nur rückblickend erscheint die Durchsetzung des Konzepts der Nation und des Nationalstaats für die politische Ordnung Europas in der Moderne als zwingend; immer gab es zu diesem Konzept Alternativen und so alt wie der Nationalismus ist auch die Idee einer transnationalen politischen Ordnung in Europa. Aber erst die Trümmerfelder des Zweiten Weltkriegs haben das historische Scheitern des Nationalismus offenkundig werden lassen und die Tür für die Suche nach konkreten politischen Alternativen zur nationalstaatlichen Ordnung des Kontinents geöffnet.

Sir Winston Churchill anlässlich seines Besuchs in Zürich 1946. In seiner Rede an der Züricher Universität machte er den Vorschlag zur Bildung der "Vereinigten Staaten von Europa". Hier Ausschnitte aus seiner Rede (kleines Bild anklicken):

(Quelle: br-online.de/wissen-bildung/thema/experimenteuropa/wunder1.xml, inaktiv, 02.06.2006)

Auch wenn Churchill an Vereinigte Staaten von Europa neben dem britischen Commonwealth [25] dachte, auch wenn eher der Europarat als die Europäische Gemeinschaft und die heutige Europäische Union die erste praktische Folge dieses Anstoßes war, auch wenn in den bald sechs Jahrzehnten seit Churchill Züricher Rede [26] die Fortschritte der europäischen Integration immer wieder von Beschwörungen nationaler Eigenständigkeit begleitet wurden das Konzept des souveränen Nationalstaats ist historisch überholt und für den europäischen Kontinent ist eine akzeptable Alternative zu einer transnationalen politischen Ordnung nirgendwo in Sicht.

Nach dem Umbruch in Osteuropa 1989 ist es offenkundig geworden, dass nur die Europäische Union den Rahmen für diese politische Ordnung bilden kann. Wie auch immer die künftige EU im Einzelnen verfasst sein wird, auf welche Weise sie auch immer die Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Ebenen politischer Entscheidungen vom kommunalen bis zum europaweiten Bereich ausbalancieren wird, welche Bezeichnung sich ihre Institutionen mittelfristig auch immer geben werden es wird sich faktisch um "so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa" handeln müssen.

Allerdings wird sich dieses politische Europa nicht mehr gleichzeitig als klar definierter kultureller Raum von anderen Teilen der Welt abgrenzen können. Das politische Europa kann das geistige Konstrukt "Europa" nicht mehr monopolisieren. Spätestens mit der Gründung der USA hat auch in der praktischen Politik die Globalisierung des Konzepts Europa begonnen, im weiteren kulturellen Bereich, so etwa in Philosophie und Wissenschaft, war das schon früher der Fall. Armand Petitjean bemerkte 1986 treffend: "Die Welt ist voller verrückt gewordener europäischer Ideen" (zit. nach Morin 1988: 123) Freiheit und Totalitarismus, Nationalismus und Menschenrechte, Demokratie und Kommunismus, die Aufklärung und die Atombombe, die Moderne in all ihren Widersprüchen ist ein europäischer Exportartikel.

Ganz richtig schreiben auch Jürgen Habermas [27] und Jacques Derrida [28] in ihrem Aufruf [29] zur Erneuerung Europas [30] : "Weil sich Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, römisches Recht und Code Napoléon [31] , die bürgerlich urbane Lebensform, Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft über andere Kontinente ausgebreitet haben, bilden diese Errungenschaften kein proprium mehr. Die westliche, in der jüdisch christlichen Überlieferung wurzelnde Geistesart hat gewiß charakteristische Züge. Aber auch diesen geistigen Habitus, der sich durch Individualismus, Rationalismus und Aktivismus auszeichnet, teilen die europäischen Nationen mit denen der Vereinigten Staaten, Kanadas und Australiens. Der >Westen< als geistige Kontur umfaßt mehr als nur Europa" (Habermas/Derrida 2003: 33).

Demonstrationen gegen den Irak-Krieg am 15. Februar 2003 in Berlin (links) und Paris. Auch in vielen anderen Städten der Welt wurde an diesem Tag gegen die Irakpolitik der USA demonstriert.

(Quelle: www.neue-einheit.com/deutsch/aktuelles/irak/030215-weltweite-proteste.htm)

Leider haben sie nicht hinzugefügt, dass die Erneuerung Europas, die sie mit Recht fordern, aus eben diesen Gründen nicht in Abgrenzung zu den USA erfolgen kann. Ganz im Gegenteil sehen sie in den Demonstrationen [32] gegen den Irak Krieg im Februar 2003 den Ausgangspunkt für einen neuen Integrationsschub, forciert durch ein "Kerneuropa" (was eine vornehme Umschreibung für Deutschland und Frankreich ist), das nach außen handlungsfähig ist und sein Gewicht in die Waagschale wirft, "um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren" (Habermas/Derrida: 33). Die Klage der beiden Autoren über die Spaltung der Europäer in der Frage des Irak Krieges wäre überzeugender gewesen, hätten sie als Ausgangspunkt dieser Spaltung nicht die "Loyalitätsbekundung" der kriegswilligen europäischen Regierungen "hinter dem Rücken der anderen EU Kollegen" genannt, die sie drastisch als "Handstreich" bezeichnen, sondern die sehr viel frühere einseitige und öffentliche Festlegung des deutschen Bundeskanzlers in dieser Frage im Bundestagswahlkampf.

Selbstverständlich gibt es zwischen den USA und der Europäischen Union Interessenunterschiede, so wie es sie innerhalb der EU und überall in der Politik gibt. Wenn mit der Kritik am "Unilateralismus" gemeint ist, dass nicht die ganze Welt den Interessen einer Macht unterworfen werden darf, dann ist das so richtig wie trivial. Wenn aber hinter dem neuerdings in Deutschland populären Gegenbegriff der "multipolaren" Welt letzten Endes nur ein Revival der Gleichgewichtspolitik des 19. Jahrhunderts, eine "balance of power" auf globaler Ebene, zum Vorschein kommen sollte, wäre dies ein fataler politischer Fehler, dessen mögliche Folgen in der europäischen Geschichte zu besichtigen sind. Die Bilder der anti amerikanischen diplomatischen Koalition zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und China im Vorfeld des Irak Krieges geben in dieser Hinsicht allen Anlass zur Sorge. Im globalen Maßstab und bezogen auf die Konfliktherde in der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, bezogen auf die Herausforderungen durch Fundamentalismus, Terrorismus und tyrannische Regime, stehen die europäischen Staaten und die USA letztlich auf der gleichen Seite verbunden durch das geistige Erbe Europas.

Das Verhältnis Europas zu den USA war gerade im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg sehr geteilt. Ländern, die den Krieg unterstützten bzw. tolerierten, wurden einer unreflektierten USA-Treue bezichtigt, denjenigen, die sich dagegen stellten, warf man Loyalitätsbruch vor.


(Quelle: www.e-faro.info/CATALA/CAcudit/monografic/cACPBush4.html)

Von diesem geistigen Erbe, von dem also, was Europa als geistiges Konstrukt ausmacht, kann man freilich nur in seinen Widersprüchen reden. Dieses Europa repräsentiert kein geschlossenes Konzept, erst recht keine Ideologie. Edgar Morin [33] sieht in seinem glänzenden Essay "Europa denken" das Bewusstsein der Vielfalt und eine in ungezählten Konflikten erworbene Kultur der "Dialogik", eines vernünftigen Umgangs mit Widersprüchen, der nicht von Verboten und Dogmen geprägt ist, als den Kern dessen, was die kulturelle Identität Europas heute ausmacht. Ganz ähnlich betrachten Habermas und Derrida die Anerkennung von Differenzen als Merkmal gemeinsamer Identität der Europäer. Anders gesagt: In Europa ist die Vorstellung entstanden, dass die Menschen als Individuen ein Recht darauf haben, auf eine selbst gewählte Weise zu leben und dass politische Institutionen einen Rahmen dafür bilden müssen, dass dies möglich ist. Europa hat in seiner Geschichte häufig Ideologien, Gewalt und Leid exportiert. Sein politisches Geschenk an die Welt aber ist, gewachsen durch die eigenen Erfahrungen mit Ideologien und mit Gewalt, die Idee der Freiheit.

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